: Aus Verzweiflung links
Lateinamerika erscheint als letzte Bastion gegen den neoliberalen Zeitgeist – doch Lula, Lagos und Chávez fällt auch nichts anderes ein als ihren marktradikalen Vorgängern
Ricardo Lagos in Chile, Nestor Kirchner in Argentinien, Tabaré Vázquez in Uruguay, Lula da Silva in Brasilien, Lucio Gutiérrez in Ecuador, Hugo Chávez in Venezuela. Wer Südamerika von Süden nach Norden durchstreift, bekommt den Eindruck, die rote Sonne gehe neuerdings im Westen auf. Fast der gesamte Subkontinent wird von Sozialisten oder Linkspopulisten regiert. Nach den Militärdiktaturen der Siebziger- und Achtzigerjahre und von neoliberalen Regimen geprägten Neunzigerjahren scheint die Region heute der letzte Hort linker Hoffnung geworden zu sein.
Aber es ist eben nur ein schöner Schein. In Südamerika hat sich keine stille Revolution abgespielt. Die Menschen haben mangels Alternativen, wenn nicht gar aus Verzweiflung, links gewählt. Und die linken Präsidenten gebärden sich gar nicht so links. Eher sind sie treue Vollstrecker der von ihren Vorgängern begonnenen neoliberalen Anpassungsprogramme – mit ein bisschen sozialem Touch vielleicht. Schauen wir etwas genauer hin: Lagos in Chile ist zwar Sozialist, wurde aber als Repräsentant einer Koalition aus Sozialisten und Christdemokraten gewählt. Ganz knapp nur hat er 2000 den Rechtspopulisten Joaquín Lavín geschlagen. Die diesen unterstützenden Rechtsparteien standen dem Exdiktator Augusto Pinochet damals noch ziemlich nahe, und das wollte die Mehrheit nicht.
Kirchner in Argentinien hat gar nicht gewonnen. Im ersten Wahlgang lag sein Parteikollege Carlos Menem vorn. Dieser einst neoliberale Musterschüler hatte in zehn Regierungsjahren dem Land den Schlamassel eingebrockt, aus dem es nur ganz langsam wieder herauskommt. Angesichts einer drohenden Niederlage zog sich Menem aus dem zweiten Wahlgang zurück; der zweitplatzierte Kirchner kam kampflos in den Präsidentenpalast. Dort hat er es leicht, den Rebellen gegen den Internationalen Währungsfonds zu mimen: Argentinien hatte sich bereits für zahlungsunfähig erklärt, als er das Amt übernahm. Er kann nun in aller Ruhe die Bedingungen aushandeln, unter denen der Schuldendienst wieder aufgenommen wird. Im Sog von Argentinien war auch Uruguay nur knapp am Staatsbankrott vorbeigeschrammt. Die wirtschaftliche Erholung steht noch aus. Die Wähler hofften, mit dem linken Kandidaten Vázquez werde sich diese ohne allzu harte Einschnitte in der Sozialpolitik abspielen. Ähnlich war es 2002 in Brasilien. Auch hier drohte der Staatsbankrott. Zudem sind die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich nirgendwo so groß wie in der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas. In den Slums der Megastädte herrscht die Drogenmafia. Immer wieder kommen die Desperados plündernd und schießend in die besseren Viertel. Die Reichen sind mittlerweile so verzweifelt, dass selbst Unternehmer dazu aufriefen, den ehemaligen Klassenkämpfer Lula zum Präsidenten zu wählen, um eine soziale Explosion zu verhindern.
In Ecuador hat es diese Explosion schon gegeben. Massenproteste, getragen hauptsächlich von Indigena-Bewegungen, hatten im Jahr 2000 den Präsidenten Jamil Mahuad weggefegt. Gutiérrez, der derzeitige Amtsträger, hatte als Militär mit ihnen sympathisiert und wurde deshalb gewählt. Hugo Chávez, der andere Exmilitär im höchsten Staatsamt, hatte 1992 selbst einen Putsch versucht und war sechs Jahre später auf demokratischem Weg Präsident geworden, weil Christ- und Sozialdemokraten, die beiden Traditionsparteien, sich den Reichtum des Erdöllandes zugeschanzt und 80 Prozent der Bevölkerung in Armut gestürzt hatten. Nirgendwo brachten richtige Liebe oder Überzeugung die Linke ins höchste Staatsamt.
Wenn sich in Lateinamerika überhaupt ein Umbruch abgespielt hat, dann war es der Zusammenbruch des traditionellen Parteiensystems. Abgesehen von der Zeit der Militärdiktaturen und wenigen anderen Ausnahmen haben auf dem Halbkontinent seit der Unabhängigkeit immer Machtklüngel regiert, die sich zwar Parteien nannten, in Wirklichkeit aber Familiengruppen waren, die stets ihre eigenen Interessen verfolgten – entweder die der Landoligarchie oder die des Handels- und Finanzkapitals.
Diese Zirkel haben die Wähler Land für Land abserviert und stattdessen der Linken eine Chance gegeben. Andere standen als Erben meist nicht bereit. Erst einmal an der Macht, fällt den Sozialisten freilich auch nicht viel anderes ein als ihren neoliberalen Vorgängern. Bestes Beispiel dafür ist Lula: Er erwirtschaftet – ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes – ein größeres Plus im öffentlichen Haushalt, als es der Internationale Währungsfonds von ihm verlangt. Aber die erhofften Sozialprogramme kommen vor lauter Sparen nicht richtig in Schwung. Trotzdem muss man Lula in Schutz nehmen. Er hat kaum eine andere Chance. Das Schicksal Argentiniens ist ihm eine Warnung: Wer nicht spart und deshalb irgendwann seine Schulden nicht mehr bedienen kann, der wird mit dem Absturz in eine noch viel tiefere soziale Krise bestraft. Die linken Politiker können also die Hoffnungen der lateinamerikanischen Bevölkerung gar nicht erfüllen. Frust ist vorprogrammiert. Was danach kommen könnte, lässt sich am Beispiel Perus studieren. Als die Wähler dort schon 1990 mit dem Altgewohnten brachen und kein Linker als Erbe bereitstand, machten sie den damals weitgehend unbekannten Agrardozenten Alberto Fujimori zum Präsidenten. Es ging dabei in erster Linie darum, den Schriftsteller Mario Vargas Llosa als neoliberalen Repräsentanten der weißen Oberschicht zu verhindern. Fujimori verfolgte jedoch einen noch marktradikaleren Kurs und war obendrein korrupt. Also versuchten es die Peruaner zehn Jahre später mit dem Mestizen Alejandro Toledo, der wie Fujimori von einer schnell auf die Beine gestellten Sammelbewegung ins Amt getragen wurde. Auch er hat die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Inzwischen finden weniger als zehn Prozent der Peruaner ihren Präsidenten noch akzeptabel.
Ecuador macht mit Gutiérrez Ähnliches durch, und auch in Bolivien deutet sich eine solche Entwicklung an. Die sozialen Proteste dort reißen nicht ab, obwohl der neoliberale Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada 2003 vor einem Volksaufstand geflohen war und sein ins Amt nachgerückter Vize Carlos Mesa Besserung versprochen hatte. Vieles deutet darauf hin, dass nach Mesa indianische Bewegungen und Parteien an die Macht kommen werden. Das wäre dann tatsächlich etwas Neues für Lateinamerika.
Noch ist es schwer vorstellbar, wie dies aussehen wird. In der Opposition pflegen diese Bewegungen eine Mischung aus indigenen Traditionen, fundamentalem Antiglobalisierungsprotest und klassischen linken Ideen. Was sie als Regierungen tun können und werden, weiß niemand. Sie sind ohnehin nur eine Option für Länder mit indianischer Bevölkerungsmehrheit. Allen anderen bleibt lediglich die Hoffnung, dass linke Regierungen die Härte des Kapitalismus wenigstens ein bisschen sozial abfedern können. TONI KEPPELER