Zwei Sterne, ausgebrannt

In der Krise der Gourmetgastronomie verlieren auch Michelin und GaultMillau an Legitimation. Ein Glück!

VON TILL EHRLICH

Glück ist relativ. Es gibt Spitzenköche, die relativ glücklich sind, wenn sie Bratwurst essen können. So gegen zwei Uhr morgens, nach vierzehn Stunden Stress. Sie haben Trüffel gehobelt, Austern geknackt, Taubenbrüste gebraten. Und wenn alles endlich vorbei ist, kommen sie innerlich nicht zur Ruhe, weil der Adrenalinspiegel nicht sinkt. Also entspannen sie bei Wurst, Senf und Pils. Manchmal auch bei Death Metal oder Garagenrock. Das erdet und bringt sie langsam wieder zurück ins wirkliche Leben. Aber warum sehen sie in ihren Superrestaurants nie so glücklich aus?

Enormer Druck lastet auf ihnen. Druck erzeugen einige wenige Restaurantführer, die jedes Jahr neu aufgelegt werden. Der einflussreichste unter ihnen ist der Michelin. Unlängst ist er wieder erschienen, zum 105. Mal. Der Michelin bezeichnet sich als „Bibel“ der Gourmet-Gastronomie. Er vergibt Sterne. Und er nimmt sie wieder weg. Die Sterne gelten als Ritterschlag in der Spitzengastronomie.

Sterneküche ist große Oper. Ihre Faszination verdankt sie einem gigantischen Aufwand. Stets müssen die Köche für beste und frischste Zutaten sorgen. Da wird stundenlang Gemüse in millimeterkleine Würfel geschnitten, werden tagelang filigrane Schwäne aus edelster Schokolade gegossen. Sterne-Restaurants sind Premiumprodukte. Die Formel 1 unter den Restaurants.

Ein Restaurant, das einen Michelin-Stern bekommt, wird schlagartig bekannt. Und wenn es ihn verliert, ist das Image nachhaltig ramponiert. Vielleicht droht gar das wirtschaftliche Aus. Viele Spitzenköche leiden unter der Diktatur der Sterne. Aber fast alle machen mit, weil die Versuchung groß ist, eine Karriere zu starten und – wenn alles gut geht – irgendwann als prominenter Koch oder Restaurantbesitzer zu enden. Nur: Es geht selten gut. Auf der Jagd nach den Sternen ruinieren viele Köche Gesundheit, Privatleben und Vermögen. Die Sterne erzeugen einen brutalen Leistungsdruck. Da die Tester stets anonym bleiben, ist für die Restaurants ständig Gefahr im Verzug. Einmal die Wachtel zu lange gebraten, schon kann der schöne Stern futsch sein.

Der Michelin gilt als seriös in der Szene. Und das sichert die Auflage. Jährlich verkauft Michelin mit seinen verschiedenen Redaktionen und Landesausgaben rund 1,2 Millionen Exemplare weltweit. Die Schar der Geschäftsreisenden und solventen Touristen, die ans Händchen genommen werden wollen, ist beachtlich. Besonders im Osten kann kein Toprestaurant ohne sie auskommen. In ostdeutschen Gourmetrestaurants kommen oft gerade mal 25 Prozent der Gäste aus der Umgebung. Der Rest reist auf Empfehlung der „Führer“ an. Die Sterne gelten ein Jahr, bis pünktlich der neue Michelin erscheint. An ein Restaurant werden maximal drei Sterne verliehen. Richtwert ist der snobistische Luxus der französischen Oberschicht.

Den ersten Stern zu bekommen ist noch relativ leicht. Wenn er da ist, wird alles anders. Im Restaurant werden teure Gläser und Geschirr angeschafft, das Personal wird aufgestockt – die Preise ziehen an. Die Weinkarte muss ein dicker Wälzer sein, etwa hundert bis zweihundert Positionen umfassen, darunter Trophäen. Sündteure Flaschen, die kein Mensch trinkt, die aber von Testern und Gästen erwartet werden. Etwa einen Château Petrus, Jahrgang 1990. Der rote Bordeaux steht dann für knapp 2.000 Euro auf der Karte. Pro 0,75-Liter-Flasche.

In der Küche wird fortan vorwiegend das verarbeitet, was Michelin für Luxus hält. Etwa piemontesische Trüffeln, kanadischer Hummer und französische Gänsestopfleber. Das kostet, denn die meisten Produkte der Sterneküche sind nicht im Umland zu finden. Spezialisten wie der gerade vom Konkurs bedrohte Rungis Express karren tagesfrische Spitzenprodukte quer durch Europa. Ein immenser Aufwand, bei dem etwa Atlantiklangusten von Andalusien in den Schwarzwald, nach Sylt oder Rügen gelangen. Überall dorthin, wo gerade ein ehrgeiziges Restaurant einen Stern anstrebt oder ihn verteidigt. Der ökonomische und ökologische Unfug ist legitimiert in der Branche. Ausgeblendet wird zudem, dass für den Gaumenkitzel Tiere gequält werden – etwa Gänse für die Produktion von Stopfleber, auf die kaum ein Gourmetrestaurant verzichten mag. Denn es geht um Karrieren, sozialen Aufstieg und den Zugang zur Elite. Es geht um den Glanz der Sterne.

Der zweite Stern verlangt noch mehr Investitionen. Etwa Bänkchen für die Handtaschen der Damen oder einfühlsame Kellner, die dem Gast jeden Wunsch von den Lippen ablesen. An Zutaten wird noch kompromissloser nur das Beste und Teuerste aus aller Welt geholt. Die Küche ist strikt auf Frankreichs höchste Delikatessen auszurichten, wie Tauben und Küken, Schwertfisch und Imperial-Kaviar. Für den dritten Stern wird purer Pomp erwartet. Alles, was selten und nahezu unbezahlbar ist. Etwa weißer Schah-Kaviar von Albinostören aus dem Iran. Dafür werden oft erneut Kredite aufgenommen. Und der Druck steigt noch mal. Und mit ihm die Abhängigkeit von Banken und Restaurantführern.

Nach zwanzig Jahren Sternegastronomie sind selbst berühmte Meister oft ausgebrannt oder insolvent. Vor zwei Jahren erschoss sich Bernard Loiseau, Dreisternekoch im burgundischen Saulieu. Er galt als ein Magier in der Küche. Als ihm der GaultMillau eine Abstufung von neunzehn auf siebzehn Punkte ankündigte, wählte er den Freitod. Um seine Sterne und Punkte täglich zu verteidigen, hatte Loiseau horrende Schulden gemacht, hatte zehn Jahre lang weder Urlaub noch frei genommen. Am Ende war er schwer depressiv und einsam.

Die Sternegastronomie ist in der Krise, die Zahl der Insolvenzen hoch. Im aktuellen Michelin fehlen allein acht Sternerestaurants, weil sie entweder in Konkurs gegangen oder aus der ruinösen Spirale freiwillig ausgestiegen sind. Die Zahl der Aussteiger wächst jährlich. Ein positives Zeichen!

Was sternewürdig ist, bestimmt der Michelin. Die Richtlinien kommen aus Frankreich, der Michelin ist der Gralshüter. Ein deutsches Restaurant muss sich mehr als ein französisches anstrengen. Und ein ostdeutsches hat es besonders schwer.

Doch hier kommt der aufstrebende deutsche Koch ins Spiel. Mit Perfektionismus versucht er, die französischen Vorbilder zu toppen. Und seine Anstrengung ist erfolgreich: In Deutschland kann man oft besser in der Gourmetgastronomie essen als im Mutterland Frankreich. Aber die Virtuosität einzelner Könner ist nicht verwurzelt in unserer Esskultur. Dies führt dazu, dass man hierzulande zwar ein getrüffeltes Taubenmousse perfekt zubereitet essen kann, aber keine Kartoffel. Heimisches ist kaum im Repertoire der Edelküchen anzutreffen. Aber muss man ein halbes Monatsgehalt ausgeben, um gut zu essen? Warum kochen unsere besten Köche nicht mit einfacheren, regionalen Produkten? Und warum tun sie es nicht in Restaurants, in denen wir uns wohler fühlen? Die Antwort ist banal: Es gibt dafür keinen Stern.

Die ewige Nummer zwei unter den Restaurantführern ist seit Jahrzehnten der GaultMillau. Die Gründerväter, Monsieur Gault und Monsieur Millau, waren zuvor Sportjournalisten. Ihr sportiver Geist hat sich in einem 20-Punkte-System niedergeschlagen. Die Punktwertung ist vergleichbar mit der Sternebewertung beim Michelin. Neunzehn Punkte entsprechen etwa drei Sternen. Der Unterschied: Michelin ist wortkarg, GaultMillau nicht. Mit unterhaltsamen bis zynischen Texten wird die Bewertung begründet.

Da wird schon mal kühn von der gedünsteten Karotte auf die Psyche des Kochs und den Zustand der Welt geschlossen: „Empfehlen wir die Essenz von der Taube unter einer Blätterteighaube, veredelt mit Gänseleber-Ravioli, tun wir dem Curry-Zitronengras-Süppchen mit gebratener Jakobsmuschel Unrecht. Rühmen wir, wie filigran und farbenprächtig die Salate daherkommen, stellen wir vermaledeiterweise hintan, wie subtil alles gewürzt ist.“

Ein Tester hat es nicht leicht. Zudem geht es um Macht. Zwischen den Zeilen macht sich oft die Lust der anonymen Autoren bemerkbar, Leistungen von Service und Küche zu verreißen. Wobei man obendrein dem Klatsch und Tratsch der Branche huldigt. Den Snobismus der französischen Oberschicht als Richtwert für ein ambitioniert kochendes Restaurant in Berlin-Mitte heranzuziehen hat herzlich wenig mit unserer Lebenswirklichkeit zu tun. Noch weniger mit gutem Essen. Andere Restaurantführer halten den Ball flacher, sie sind auch weniger einflussreich. Die Texte sind weniger prätentiös. Beim Aral Schlemmer Atlas etwa springt zwar der Mangel an fundierter Recherche ins Auge, doch man ist um einen sachlichen Ton bemüht.

„Wir sind Perfektionisten“, sagt eine 28-jährige Sommelière, die sechs Jahre lang in Sternerestaurants in Berlin und Hamburg gearbeitet hat. „Wir bekommen einen niedrigen Tariflohn, leisten dazu täglich drei bis vier unbezahlte Überstunden. Wir kennen weder Wochenende noch Feiertage. Es geht nicht ums Geld, sondern um Leidenschaft. Eine vernichtende Restaurantkritik ist für uns oft tödlich, besonders wenn sie nicht sachlich ist.“ Ein Jahr Topgastronomie verlangt etwa so viel Kraft wie zwei Jahre in einem normalen Bürojob mit geregelten Arbeitszeiten. Viele Sterneköche nehmen Drogen, heißt es branchenintern, um dem Schlafmangel und dem hohen Druck standzuhalten. Ein Großteil der Köche und Servicekräfte steigt daher mit dreißig aus. Hoffentlich rechtzeitig, bevor sie ausgebrannt sind.

TILL EHRLICH, 40, hat zehn Jahre als Koch gearbeitet und die Branche gründlich kennen gelernt: vom Ausflugslokal über Hotel- und Bankettrestaurants bis zum Sternetempel