: „Erpressung durch die Hausärzte“
ÄRZTE Der Bremer Gesundheitsökonom Gerd Glaeske über die Zukunft der regionalen Versorgung und die „irrsinnig hohe Zahl von Arztkontakten“ pro Einwohner und Jahr
■ Gerd Glaeske, Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, ist Co-Leiter der dortigen Abteilung für Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung. Zwischen 1996 und 1999 war er Leiter der Abteilung für medizinisch-wissenschaftliche Grundsatzfragen bei der Barmer Ersatzkasse. Er gibt jährlich den Arzneimittelreport der Gmünder Ersatzkasse heraus und ist seit 2003 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. (taz)
Interview: JAN ZIER
taz: Von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) bis hin zu den zuletzt streikenden HNO-Ärzten fürchten viele Mediziner um die flächendeckende Versorgung. Zu Recht?
Gerd Glaeske: Ich glaube, es gibt keinen Grund, über Mangelversorgung zu sprechen, im Gegenteil: Es ist genug Geld im System.
Bis zum 30. Juni müssen auch in Bremen Hausarzt-Verträge mit den Krankenkassen abgeschlossen werden. Der hiesige Hausärzteverband verspricht schon mal „mehr Zeit“ für PatientInnen.
Für sich genommen bedeutet die hausarztzentrierte Versorgung aber noch nicht, dass die Versorgung besser wird. Auch wenn viele jetzt so tun: Dafür gibt es aber wenig empirische Belege.
In Bayern und Baden-Württemberg hat man die neuen Verträge schon abgeschlossen.
Mit sehr unterschiedlichem Ergebnis. In Baden-Württemberg gibt es jetzt eine „Kontaktpauschale“, so dass nicht mehr alle einzelnen Leistungen abgerechnet werden. Das finde ich im Prinzip richtig: Dann haben die Ärzte nicht nur ein Interesse, jene Leistungen zu erbringen, die sie am Ende auch abrechnen können. Das bayerische Modell ist dagegen abschreckend. Die bayerische Hausärzte haben es geschafft, einen exorbitant hohen Honorarvertrag abzuschließen, der aber kaum qualitätsorientierte Anreize enthält.
Worauf läuft es in Bremen hinaus?
Die Meinung ist hier noch gespalten. Die Hausärzte wollen einen Vertrag, der dem Baden-Württemberger Modell ähnelt. Die Frage ist aber, woraus sollen die Kassen die zusätzlichen Honorare finanzieren? In Baden-Württemberg will man bei den Arzneimitteln sparen, aber das notwendige Sparpotenzial ist da gar nicht mehr so hoch. Daneben wollen die Hausärzte sich auch aus der Kassenärztlichen Vereinigung lösen, die KV will das verhindern. Sie hat immer noch nicht ganz verstanden, dass sie ein Anbieter unter anderen ist – und keineswegs alternativlos. Die KV war lange Zeit zu beharrend und arrogant.
Die KV verteidigt sich damit, dass nur sie auf Augenhöhe mit den Kassen und der Politik verhandeln kann.
Das glaube ich nicht. Aber die Hausärzte haben in den vergangenen Jahren unter den Fachärzten sehr gelitten. Inzwischen werden sie auch politisch sehr viel stärker unterstützt. Grundsätzlich kann ich verstehen, dass die Hausärzte selektive Verträge abschließen wollen, wenn sie dann angemessen für das bezahlt werden, was sie als ambitionierter Arzt bisher vielleicht auch schon gemacht haben: Prävention etwa, Beratung und Früherkennung.
Die Ersatzkassen fürchten Mehrkosten von bundesweit bis zu vier Milliarden Euro, wenn sich das bayerische Modell durchsetzt.
Dort haben die Hausärzte die AOK erpresst. Sie versuchen im Gegenzug, die Versicherten anderer Kassen in die AOK zu lenken. Das ist eine Unverschämtheit.
Dabei ist immer wieder vom Hausarzt als „Lotsen“ im System die Rede.
Das ist ein falsches Bild. In der Schifffahrt ist der Lotse jemand, der allein bestimmt. Wir brauchen mehr kooperative Lösungen, in denen Spezialisten und Hausärzte miteinander entscheiden und die heutige Konkurrenz nicht mehr so auftritt.
Wie soll das konkret funktionieren?
Haus- und Fachärzte bekommen für eine bestimmte Population eine bestimmte Menge Geld. Gerade Bremen würde sich da als Stadtstaat anbieten. Die Ärzte sind dann für alle zuständig, die in einer bestimmte Region wohnen. Das können Stadtteile, aber auch Landstriche sein. Die Honorierung müsste dann sehr viel stärker pauschalisiert werden.
Was muss sich ändern, damit die Versorgung der Patienten wie versprochen tatsächlich besser wird?
Die Versorgung muss populations- und weniger indikationsbezogen werden. In den Krankenhäusern werden im Rahmen der ambulanten Versorgung schon heute medizinische Versorgungszentren unterstützt, in denen ganz verschiedene Berufsgruppen tätig sind. Diesen Weg sollte das System gehen, bislang ist es sehr ärztezentriert. Das andere ist die irrsinnig hohe Zahl von Arztkontakten im Jahr: Bei uns gehen die Leute im Schnitt 18 Mal im Jahr zum Arzt. Das liegt auch daran, dass die Ärzte immer wieder versprechen, Lösungen bereitzuhalten.