: Eltern, die ökonomischen Idioten
Kinderlosen Paaren fehlende Gebärfreude vorzuwerfen lenkt davon ab, dass sie nur dem deutschen Ideal der monetär abgesicherten Familie folgen – oder im Bett zu lange lesen
Im abgelaufenen Jahr 2004 ist die Zahl der Geburten in Deutschland erneut gesunken. Aber es gibt Hoffnung. Familienpolitik ist auf der politischen Agenda ganz nach oben gerückt. Das dokumentiert schon die Zahl der wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Thema. Es vergeht bald keine Woche mehr, in der nicht eine neue Studie vorgelegt wird.
In der Vergangenheit stand dabei die Situation der Familien mit Kindern im Mittelpunkt der Diskussion. Schließlich haben sie reale Probleme zu bewältigen: Etwa die so genannten Opportunitätskosten. Die Geburt der Kinder hat in den meisten Fällen den Ausfall eines Partnereinkommens zur Folge – und bringt zugleich höhere Kosten mit sich. Dafür suchte man nach entsprechenden politischen Lösungen. Bisher standen zwei Optionen im Vordergrund. Entweder die Einkommensverluste durch Transferzahlungen wie Kinder- und Erziehungsgeld ausgleichen. Oder durch den Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sicherstellen. Die Bundesregierung hat den Schwerpunkt von den Transferleistungen hin zu mehr Kinderbetreuung verlagert. Das wird zwar vielen heutigen Familien nicht mehr viel nutzen, dafür aber den noch nicht geborenen Kindern. Eltern brauchen pragmatische Lösungen – auch wenn sie die Entscheidung für Kinder erst noch treffen müssen.
Nun ist allerdings ein interessanter Perspektivenwechsel zu beobachten. Im Zuge der neu entdeckten Bevölkerungspolitik geraten die realen Eltern und deren Kinder in den Hintergrund. Statt dessen wird die Kinderlosigkeit thematisiert. Auslöser dafür war die Wahrnehmung der hohen Zahl kinderloser Männer und Frauen mit Hochschulabschluss. Generell wird die Zahl der kinderlosen Frauen im Geburtsjahrgang 1965 auf 40 Prozent geschätzt. Dabei sollte sich niemand etwas vormachen: Es werden auch in Zukunft nur relativ wenige Frauen mit über 40 ihr erstes Kind bekommen. Späte Mütter wie die Talkshow-Ikone Bärbel Schäfer werden die Ausnahme bleiben. Der berufliche Erfolg und die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten machen das Risiko später Elternschaft in diesen Fällen überschaubar – und sind kaum zu verallgemeinern.
Die Zeitschrift Eltern wollte es nun genau wissen und fragte nach den Motiven für den Verzicht auf Kinder. Das Ergebnis löste eine lebhafte Debatte aus. Die schlechte Betreuungssituation spielte keine Rolle. Stattdessen dominierten zwei andere Antworten. Es fehle der passende Partner und man sei auch ohne Kinder glücklich. So geriet die Politik der verbesserten Kinderbetreuung in ein diffuses Licht. Ist das gar nicht der richtige Weg zur Umkehr des demografischen Trends? Der Familienatlas 2005 des Prognos-Institutes scheint das noch zu unterstützen. Dort haben die Landkreise mit den höchsten Geburtenzahlen alle das gleiche Problem: schlechte Betreuungsmöglichkeiten.
Der Unsinn dieser Debatte liegt in der Methode: Die angegebenen subjektiven Motive für den Verzicht auf Kinder sind bevölkerungspolitisch irrelevant. Warum soll man etwa ohne Kinder nicht glücklich sein? Man kann am Wochenende lange im Bett bleiben und Studien über Kinderlosigkeit lesen – oder sich in der multioptionalen Gesellschaft alternativ betätigen.
Der französische Demograf Emmanuel Todd hat in seinem letzten Buch über den Niedergang der USA eine interessante Bemerkung zur Bevölkerungspolitik gemacht: „Den Gesellschaften mit einer individualistischen Tradition wie Amerika, Frankreich und England scheint die Entscheidung für Kinder leichter zu fallen. In Ländern mit einer eher autoritären Vergangenheit (Deutschland, Italien, Spanien) hat sich in demografischer Hinsicht eine passivere Einstellung zum Leben gehalten. Die Entscheidung für die Fruchtbarkeit, die aktiv getroffen werden muss, scheint den Menschen in diesen Ländern schwerer zu fallen.“ Genauso ist es. Aber das Problem bei uns ist die besitzbürgerliche Interpretation des Individualismus: Man muss sich Kinder leisten können. Die Eltern-Studie hat man allerdings zum Anlass genommen, die schlechten ökonomischen Rahmenbedingungen – wie die zunehmende ökonomische Unsicherheit – zu negieren. Das hat in Deutschland eine gewisse Tradition: Man definiert sich zwar in kaum einem anderen Land in gleicher Weise über das Geld, aber ignoriert zugleich die Bedeutung materieller Lebensbedingungen. Stattdessen führt man lieber Wertedebatten. Auf diesem Niveau wird jetzt ein moralisierender Diskurs über die Motive von Menschen zum Verzicht auf Kinder geführt. Tatsächlich begründeten in dieser Studie 39 Prozent aller Befragten den Verzicht auf Kinder mit der ökonomischen Situation. In der Prognos-Untersuchung zeichnen sich Regionen mit hoher Kinderzahl durch stabile ökonomische und soziale Rahmenbedingungen aus. Diese Verhältnisse werden bekanntlich immer mehr zur Rarität. Übrigens nicht nur in Ostdeutschland.
Die Kinderlosigkeit ist keineswegs das Ergebnis von Egoismus, sondern die Folge des herrschenden ökonomischen Diskurses. Es fehlt, um Todd richtig zu verstehen, an Selbstbewusstsein und Zukunftsvertrauen, sich dem zu widersetzen. Die in der Eltern-Studie angegebene Begründung des „fehlenden Partners“ ist dafür ein Indiz. Man kann auch in Trennungssituationen gemeinsam Kinder erziehen – oder unter schwierigen sozialen Bedingungen. Wer will das bestreiten? Die meisten Befragten verstehen das Diktat der Ökonomie schon richtig. Sie wagen es aber nicht, diesem Diktat konträre Entscheidungen zu treffen. Dem Staatsbürger – dem Citoyen – fehlt es bei uns an Selbstbewusstsein. Es dominiert der Bourgeois mit seiner betriebswirtschaftlichen Logik. Kinder sind in dieser Perspektive ein schlechtes Geschäft: Man muss ein ökonomischer Idiot sein, um sich für mehrere Kinder zu entscheiden. Die Alternative dazu sind privilegierte Lebensbedingungen. Darüber verfügt aber nur eine Minderheit und dort hat sich schon längst ein entsprechender Bewusstseinswandel vollzogen. Kinder haben in diesen Gruppen durchaus wieder einen hohen Stellenwert. Die ökonomischen Rahmenbedingungen lassen ansonsten keine andere Wahl, als Unsicherheit mit Selbstbewusstsein zu kompensieren. Dieser individuelle Eigensinn wird aber wohl auch in Zukunft fehlen. Anders ausgedrückt: Die Zahl der ökonomischen Idioten wird sich keineswegs vermehren. Die zunehmende ökonomische Unsicherheit trifft auf historisch fruchtbaren Boden. Der herrschende ökonomische Diskurs wird mit seiner Konsequenz der Kinderlosigkeit auf diese Weise zum lebensfeindlichen Modell. Also bleibt nichts anderes, als die Rahmenbedingungen entsprechend zu verändern. Dabei gibt es zu den Optionen Transferzahlungen und Kinderbetreuung keine Alternative. Aber man kann natürlich auch weiter Motivforschung betreiben. Vielleicht lesen die Leute auch einfach zu viel im Bett.
FRANK LÜBBERDING