Verbaut, verschweißt, vergessen

1,5 Kilo Atomschrott unter fünf Metern Beton: Der 1989 abgeschaltete Thorium-Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop ist sein eigenes Zwischenlager

AUS HAMM-UENTROPKLAUS JANSEN

Die zwei Männer stehen auf dem Kern des Atomkraftwerks in Hamm-Uentrop. Ein dicker Stahlboden und eine fünf Meter dicke Betonwand trennen sie von anderthalb Kilo Atomschrott, Uran, Thorium und Plutonium. Aus der Wand ragen bunte Rohre und Leitungen: Braun für Öl, grün für Wasser, blau für Luft und gelb für Gas. Sie sind verschlossen. „Abgeschnitten, zugeschweißt, Deckel drauf, nochmal zugeschweißt“, sagt der drahtige Rothaarige mit der Lampe. „Die beiden goldenen Regeln der Kernkraftsicherheit: Redundanz, Diversität“, ergänzt sein Kollege mit der silbernen Uhrenkette.

Andreas Reisch und Günther Dietrich sind Cheftechniker und Geschäftsführer der „Hochtemperatur-Kernkraftwerk GmbH“. Ihr Arbeitsplatz ist die Reaktorhalle des Thorium Hochtemperaturreaktors, kurz THTR 300 – noch vor dreißig Jahren der Traum eines jeden Energiepolitikers, nun eine Ruine. „Drei Ingenieursleben habe ich mit dem THTR verbracht: Aufbau, Betrieb, sicherer Einschluss, Erhaltungsbetrieb“, sagt Michael Reisch, als er die Reaktorhalle verlässt. Er raucht eine selbstgedrehte Zigarette, zware shag, und geht über das Gelände des RWE-Kohlekraftwerks Westfalen, vorbei an Stacheldraht-bewehrten Objektschutztoren, die längst außer Dienst sind.

In den 70er und 80er Jahren war es ihre Aufgabe, das zu schützen, was die Zukunft der Kernenergie sein sollte: Ein Reaktor, der ohne Wasserkühlung auskommt. Ein Reaktor, der sich im Fall einer Störung selbst herunterfährt. Seine Energie sollte dazu genutzt werden, Kohle zu verflüssigen – und zu exportieren. Auf ewig und drei Tage könnte das Atomkraftwerk zehntausende Arbeitsplätze im Steinkohlebergbau erhalten, glaubte die Landesregierung. „SPD-Reaktor“, hieß es damals. Heute, dreißig Jahre später, gibt der Reaktor gerade mal zwei Männern Arbeit.

Das Projekt floppte – die Technik, von der man geträumt hatte, funktionierte nicht reibungslos. 1986, im Jahr des Reaktorunfalls in Tschernobyl, kam es auch in Hamm-Uentrop zu einem Störfall: Ein kleines Wölkchen radioaktiver Aerosole wurde aus dem Kamin in die Luft geblasen – das Atomkraftwerk war politisch erledigt. Nur 426 Tage war die Anlage unter Volllast gelaufen. Rund fünf Milliarden Mark hatte das Projekt gekostet – nicht einmal ein Viertel bezahlte die Stromwirtschaft, der Rest kam von Bund, Land, dem Steuerzahler.

Wenige Kilometer vom Reaktor entfernt sitzt Horst Blume in der Dachgeschosswohnung seines Elternhauses am Lippe-Seitenkanal. Der Mann in Pantoffeln steht seit 30 Jahren an der Spitze der „Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm“. Er hat seinen Kampf gewonnen. Seit 1989 arbeitet der Reaktor nicht mehr. Der an einem einzigen markanten Träger aufgehängte, gleichsam schwebende Kühlturm, einst Wunderwerk der Technik, ist längst gesprengt. Horst Blume macht trotzdem weiter. Der 51-Jährige hat eine schriftliche Anfrage an die NRW-Landesregierung gerichtet. Fragen nach Zahlen und Zeiträumen, auf zwei Seiten Papier. Wie viel Geld hat der Reaktor verschlungen, wie viel verschlingt er noch jetzt, als totes Gerippe. Fragen, auf die man ihm keine Antworten gibt.

In den Regalen hinter Blume stehen Bücher mit Titeln wie „Der Atom-Staat“ oder „Anarchismus“, an der Wand hängen Bilder von zapatistischen Rebellen, auf dem Bücherbord sitzt: Käpt‘n Blaubär. Als 17-Jähriger mit langen Haaren und Bart hat Blume den Kampf gegen den Reaktor in seiner Nachbarschaft aufgenommen. Damals war er Lehrling in einem Baustoffhandel. Sein Chef war ein FDP-Ratsherr, Atomkraftbefürworter. „Bis vier Uhr bin ich arbeiten gegangen, um fünf Uhr nach Feierabend habe ich vor dem Rathaus gegen meinen Vorgesetzten demonstriert“, sagt Blume. Die Rache folgte: Auf einer Betriebsfeier füllten ihn Chef und Kollegen ab, rasierten ihm die Haare und einen Hitler-Schnäuzer.

Blumes Wohnung war die Keimzelle des Widerstands gegen den THTR. Mit seinen Freunden, später mit den Bauern aus der Region, hat er demonstriert, dann in Nacht-und-Nebel-Aktionen das Tor des Reaktors blockiert. „Wir haben Kundschafter mit Autos zum Tor geschickt, dann gekuckt, ob die Presse da ist, dann mit dem Traktor hinterher, ich dann da hin...“ – Blume gestikuliert wild. Eine „wunderschöne Zeit sei das gewesen“, sagt er.

Seine Freunde haben den Protest eingestellt, als der Reaktor still gelegt wurde. Blume macht weiter. Er schreibt Rundbriefe und Artikel für Anti-Atomkraft- und Anarchismuszeitungen, betreibt gemeinsam mit einem Bekannten die Homepage thtr-a.de. „A steht für anti“, sagt Blume. Das Atomkraftwerk ist für ihn noch nicht erledigt. China und Südafrika entwickeln die Hochtemperatur-Technologie weiter, „mit Unterstützung des Forschungszentrums Jülich, obwohl die nur Sicherheitsfragen erforschen dürfen“, sagt er. Er hat Listen erstellt mit Veröffentlichungen aus Jülich, „die belegen, dass die aktiv forschen“, sagt Blume. Ab und zu fährt er noch zum Kraftwerk, auf der bunt bemalten Schutzmauer kleben Radioaktivitätszeichen. „Die haben wir dahin geklebt“, sagt er. Und dann: „Ja, das hat mein Leben bestimmt.“

„Mein Mann legt noch eine halbe Stunde die Beine hoch, dann ist er zu sprechen“, sagt die Frau am Telefon. Die Fürsorge gilt Horst Blumes Gegenspieler: Klaus Knizia, von 1975 bis 1992 Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen (VEW). Knizia, mittlerweile 77 Jahre alt, ist einer der Väter der Hochtemperatur-Technologie. Er lebt in Herdecke, etwa 60 Kilometer von Hamm entfernt. Gerade aus dem Mittagsschlaf geweckt, betet er die Vorzüge seines Reaktors herunter: Inhärente Sicherheit, hoher Wirkungsgrad, kein Wasser zur Kühlung benötigt. „Optimal für aride Zonen. Man könnte ganze Wüstengebiete damit zubauen“, sagt Knizia.

Der Ingenieur glaubt an eine Renaissance seiner Technologie: „China, Südafrika, Japan – nur Deutschland macht nichts.“ Nach den Terroranschlägen des 11. Septembers ist die Internationale Atomenergiebehörde an den Rentner herangetreten, er solle ein Dossier verfassen – für Knizia eine späte Genugtuung. „Kaputt gegangen ist der Reaktor, weil ihn die Politik nach Tschernobyl nicht mehr wollte. Ein paar Monate vorher wurde uns von Kanzler Schmidt in Bonn noch ein roter Teppich ausgerollt, wenn wir den THTR präsentiert haben“, sagt Knizia. Seine Partner auf Seiten der Politik sehen die Situation in der Rückschau anders: „Knizias Kopf glühte wie ein durchgebrannter Reaktor“, erinnert der damalige NRW-Arbeitsminister Friedhelm Fahrtmann an ein altes Spiegel-Zitat. „Knizia ist ein netter Kerl, aber verrückt nach Atomkraft: Dessen Birne hat immer rot geglüht, wenn der auf dem Podium saß“, sagt der Sozialdemokrat.

Knizia fühlt sich von der Politik verraten. Die Probleme, der Störfall? „Das war ein Prototyp, natürlich funktioniert da nicht alles. Das ist doch ganz normal, wie bei einem Flugzeug, einem Fahrrad oder sonst wo.“

Der stillgelegte Prototyp kostet noch immer 6,5 Millionen Euro im Jahr. Den Löwenanteil tragen der Bund und die NRW-Landesregierung. Für die im Zwischenlager Ahaus gelagerten Brennelemente muss Miete bezahlt, der Reaktor muss überwacht werden. Techniker Andreas Reisch muss für ständigen Unterdruck im Kern sorgen. 2.500 Leitungen und Rohre sind zu kontrollieren, die in das verstrahlte Innere führen, 2.500 verschweißte Nahtstellen. Eine eigens für den Einschluss gebaute Lüftungsanlage hält das Innere des Mantels trocken, damit Rohre und Leitungen nicht rosten.

Bis 2009 ist die Finanzierung für diesen Apparat noch gesichert. Und dann? Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat sich darüber scheinbar noch keine Gedanken gemacht. Sie weiß nicht einmal, wer genau zuständig ist: Das Energieministerium erklärt das Kraftwerk zu einer Sache des Wirtschaftsministeriums. Nein nein, ist man sich dort sicher, das Energieministerium entscheidet. Kann sein, gibt man dort später zu, aber über die Finanzen wisse nur das Finanzministerium Bescheid.

Wirklich informiert scheint nur RWE. „Für die Phase nach 2009 wird das Land NRW die Mittel bei Herstellern, Stromwirtschaft, der Deutschen Industrie und der Bundesrepublik Deutschland einwerben“, teilt das Unternehmen mit. Der Erfolg: Ungewiss wie die Zukunft der Atomruine.

Frühestens 2027 kann der Reaktor aufgemeißelt und abgerissen werden – wenn es bis dahin ein Endlager gibt. Techniker Martin Reisch, jetzt 49, wird bis zur Rente im Reaktor herumwerkeln. Mit der Taschenlampe, weil es zu gefährlich wäre, die Anlage zu beleuchten – die Folgen eines Kabelbrands sind nicht abzuschätzen. Deshalb müssen selbst die Uhren stillstehen: Sie alle zeigen 19 Uhr 17 – die Zeit, in der die Anlage vom Netz ging.