Varianten von Eigensinn

Schriften zu Zeitschriften: Setzt eine politische Antwort auf al-Qaida voraus, dass man ihre Bekennerschreiben ernst nimmt? Muss die EU eine robuste Weltmacht werden? Zwei Thesen aus dem aktuellen Heft der Zeitschrift „Internationale Politik“

VON JAN-HENDRIK WULF

Dem geostrategischen Denken der Außenpolitik scheint immer ein etwas eskapistischer Makel anzuhaften. Doch die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik herausgegebene Zeitschrift Internationale Politik möchte zu ihrem 60-jährigen Erscheinungsjubiläum ihren Lesern vor allem vermitteln, dass innen- und außenpolitisches Denken in Zukunft kaum noch voneinander zu trennen sein werden.

Gleich im ersten Beitrag kritisiert der Tübinger Ethnologe Thomas Hauschild, dass kaum jemand in Deutschland die aus der Fremde drohenden islamistischen Gefahren wahrhaben wolle. Schuld daran sei nicht zuletzt eine „mangelnde Hierarchisierung von Diskursen nach Wahrheitspotentialen“, die mit den „Prozessen der realen Politisierung des Islams kollidiert“. Ein solcher Relativismus verenge aber den Blick „für die Wahrnehmung interner Differenzen“ und lasse übersehen, „dass es vor dieser Politisierung etwas gab, was nicht völlig ‚politisch‘ gewesen ist“.

So habe niemand versucht, den Anschlag auf die Synagoge La Ghriba auf Djerba im Zusammenhang mit der Geschichte des Bauwerks und seines sozialen Milieus zu interpretieren. Zielgerichtet sei hier nämlich ein „altmediterraner Synkretismus“, also eine Vermischung verschiedener Kulturen, getroffen worden, „der wiederum geschaffen wurde, um eine von Überschwemmungen, Dürren und Piraterie bedrohte Landschaft bewohnbar zu machen“. Doch die Kulturkritik frage zu wenig nach „jenen seltenen, aber unübersehbaren Varianten von Eigensinn, die sich aus lokalen Kulturen erheben, um letztlich die gesamte Menschheit zu gefährden“.

Hauschild zufolge brauche man nämlich „keine angeblichen Webfehler des Islams oder andere Schimären des Idealismus bemühen, wenn man erklären will, was für die arabisch-islamistischen Zivilisationen im globalen Wettbewerb schiefgegangen ist“. Denn historisch-ethnologisch gesehen resultiere deren strukturelle Schwäche nicht aus intellektuellen Defiziten, sondern aus der „geringen Kontrolle und technischen Durchdringung der Tiefe des Raumes, den die Ottomanen und ihre Vorgänger besetzt hielten“. Dafür stehen exemplarisch die verkarsteten Strukturen des Mittelmeerraumes und seine naturräumliche Gliederung in Mikro-Landschaften.

Mit dem Mut zur Generalisierung behauptet Hauschild, dass „in diesem Charakter der Nische als Reserve und in dieser Verlangsamung der großen Impulse aus den Zentren der Weltgeschichte (…) paradoxerweise ein Aspekt des ‚Eigenen‘ der islamischen Gesellschaften zu liegen“ scheint. Ein naturräumlich-mentales Gefüge, das unter den Bedingungen der modernen Welt mit ihrem Entweder-Oder, „wenn die Nischen und die kulturellen Reserven des alten Mittelmeerraums völlig entwertet werden“, zum Fundamentalismus verkommen könne.

Für Hauschild setzt eine politische Antwort daher die Wiederentdeckung vergessener Fähigkeiten voraus, man müsse unter anderem „die Bekennerschreiben von al-Qaida ernstnehmen, mit Sufi-Orden philosophieren“, aber eben auch versuchen, „unsere islamischen Mitbürger in ein gemeinsames Sprachspiel über die Ziele Europas zu ziehen“.

Doch wie unbescheiden diese Ziele inzwischen offiziell gefasst werden, erfährt man im selben Heft aus einem Interview mit dem Industriekommissar der Europäischen Union, Günter Verheugen. Er spricht gelassen aus, „dass sich Europa als eine Weltmacht etablieren muss“, die ihren globalen Gestaltungsanspruch „notfalls mit robusten Mitteln schützen kann“. Aus dieser Perspektive erkläre sich die Bedeutung eines Beitritts der Türkei. Der erfolgreichen EU-Politik sei es hier bereits gelungen, „einen semiautoritären Staat umzuwandeln in eine vor Vitalität geradezu berstende Demokratie“. Doch auf ein kritisches Einhaken der IP-Redakteure wartet man hier vergebens.

Kritischen Nachfragen entzogen bleibt ebenso die von Verheugen mitentwickelte Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP), mit der die EU ihre Beziehungen zu den Staaten der GUS, des Nahen Ostens und des südlichen Mittelmeeres gestalten will. Verheugens besonderes Augenmerk gilt der Integration Israels, das „voller Teilnehmer am Binnenmarkt“ werden soll. Doch geht es in diesen Zukunftsvisionen nicht um mehr als die aufklärerische Verbreitung von Frieden, Wohlstand und Menschenrechten, nämlich um die knallharte Sicherung von Märkten und Einflusssphären? Welche Kollisionen mit lokalen Konflikten oder auch mit den USA sind hier zu erwarten?

„Internationale Politik“ 1/2005, 9,95 €