Überraschungen der Natur

Die Metapher vom angeblichen ökologischen Gleichgewicht hat sich durchgesetzt, längst über die Ökologiebewegung hinaus. Es wäre aber besser, sich von ihr trennen. Sie ist nur eine Worthülse

Das Gleichgewicht der Natur ist nur eine Konstruktion – Datenreduktion nennt man das in der Wissenschaft

VON CORD RIECHELMANN

Die Sprache des Commonsense – auch gesunder Menschenverstand genannt – ist längst durch naturwissenschaftliche Metaphern kolonisiert. Man sieht zum Beispiel auf dem Fernsehsender Arte zwei französische Biologinnen bei ihrer Arbeit an einem entlegenen Korallenriff.

Die beiden Frauen wirken angestrengt und erschöpft. Das ändert sich auch nicht, als sie in einem James-Bond-ähnlichen Fluggerät über das Riff fliegen und nach Stellen suchen, an denen sich die Arbeit noch lohnt. Ein Großteil der Korallen hat ihre Farbe verloren. Sie sind bleich geworden: ein Prozess, der unter dem Namen Korallenbleiche berüchtigt geworden ist. Aus dem Off erklärt eine Stimme die Lage mit der Erderwärmung und der Störung des ökologischen Gleichgewichts. Während aber steigende Wassertemperaturen tatsächlich etwas erklären, ist der Begriff der Störung des ökologischen Gleichgewichts nichts als eine Worthülse.

Es gibt kein ökologisches Gleichgewicht. Der Erfolg dieser Metapher steht in einem direkten Zusammenhang mit der Krise der Umweltbewegungen und der Ökologie als Wissenschaft. Der in München lehrende Ökologe Joseph H. Reichholf hat in seinem Buch „Comeback der Biber“, dessen Untertitel „Ökologische Überraschungen“ darauf hindeutet, wie wenig genau Vorhersagen in der Ökologie sind, an einigen Fallbeispielen die Schwierigkeiten ökologischer Begriffsbildung durchgespielt.

Das fängt schon an mit dem Begriff des Ökosystems. „Ökosysteme sind keine ‚natürlichen Funktionseinheiten‘ oder gar so etwas wie ‚Super-Organismen‘, sondern willkürlich, zumeist aus praktischen Gründen abgegrenzte Ausschnitte aus dem Naturhaushalt“, schreibt Reichholf. Das hat Vorteile und Nachteile. Nur indem man einen bestimmten Lebensraum wie einen See, einen Wald oder ein Korallenriff abgrenzt und ihm ein Innen und Außen zuordnet, bekommt man die in ihm lebenden Arten und ihre Wechselbeziehungen in den Blick. Aber auch dann wird man sich in der Regel in dem Gewirr der Lebenserscheinungen noch verlaufen. Denn in den meisten Ökosystemen ist die Artenzahl einfach zu hoch – und häufig noch nicht mal ganz bekannt –, als dass daraus etwas anderes folgen könnte als wirre Schaubilder, in denen andauernd etwas schwankt, kommt und wieder geht.

Eine Vorstellung, was Natur ist, ließ sich daraus nicht ableiten. Noch weniger konnte man mit den Ergebnissen so etwas wie eine unberührte Natur fundieren. Wann soll es die wo und wie gegeben haben, wenn sich alles immer andauernd verändert und eine Rekonstruktion der Natur ohne die „zweite Natur“ – was nichts anderes als den Menschen meint – gar nicht möglich war? Trotzdem sind die Schriften und Forderungen der Naturschützer von Begriffen wie dem von der „Störung des Naturhaushalts“ durchzogen, und hierzulande stehen sie sogar im Naturschutzgesetz. Eine Natur, wie sie sein soll, wird so zur Leitidee ihres aktuellen praktischen Schutzes.

Wenn man das berücksichtigt, findet man auch eine bessere Erklärung für die Erschöpfung der beiden Biologinnen in dem Arte-Film. Freilanduntersuchungen haben generell den Nachteil, dass die Gegenstände der Untersuchung machen, was sie wollen, und sich der Kontrolle entziehen. Das kann einen zermürben, und es macht die Arbeit anstrengend. Die großen Erklärungen und Lehrbuchdefinitionen helfen einem nicht weiter, darüber hinaus bleibt man mit den meisten Erfahrungen, die man macht, allein. Das verändert die Empfindingsapparatur und kann auch dazu führen, zurück in Paris, Berlin oder Philadelphia, von den Mitmenschen als leicht gestört empfunden zu werden. Die Verstörung hat aber nichts mit irgendeinem womöglich noch inneren Gleichgewicht zu tun, man ist einfach anders geworden, nicht mehr so wie früher. Auch das kann erschöpfen.

Weil man aber trotzdem aus den gesammelten Daten etwas machen muss, geht man den Weg jeder Naturwissenschaft: Das Material wird rigoros vereinfacht. Datenreduktion nennt man das. Und so verfuhr auch die Ökosystemforschung im Ganzen. Man reduzierte die Organismen im System auf Funktionseinheiten wie Produzenten, Destruenten und Konsumenten. Dadurch wurde es verkraftbar, nicht jedes einzelne Lebewesen zu kennen; man konnte sich auf Stoffkreisläufe und Energieflüsse konzentrieren. Die Tatsache, dass sich zum Beispiel Korallenriffe ständig wandeln, wurde fassbar.

Auf der einen Seite bauen Korallen durch ihre Kalkskelette ständig neue Riffe auf, auf der anderen Seite zerstören Brandung, Pflanzen und Fische sie auch wieder. Der ständige Stoff- und Energieumsatz war zwar nicht immer in lineare Beziehungen zu bringen, aber man half sich mit dem Begriff des dynamischen Gleichgewichts, das den Wechsel der Artenzusammensetzungen und die Schwankungen der Stoffkonzentrationen im Ökosystem auffangen konnte. Es verändert sich zwar ständig alles, aber als Ganzes vermittelt es den Eindruck von Beständigkeit.

Es gibt also doch ein Gleichgewicht der Natur – nur ist das eine Konstruktion. Die so lange hält, bis dann plötzlich riesige Seesternschwärme ins australische Barrier Riff einfallen und die Korallen abgrasen oder ein Feuer den amerikanischen Yellowstone Nationalpark verwüstet. Die einzigartigen Lebensräume seien auf immer zerstört und natürliches Gleichgewicht werde sich nie mehr wieder einpendeln, hieß es. In beiden Fällen kam es anders. Aber beide Beispiele machen deutlich: Ökosysteme sind von Menschen willkürlich mit Grenzen versehene Ausschnitte aus der Natur. In der Natur selbst sind sie offene Systeme. Sie können „gar kein inneres Gleichgewicht haben, weil ihm eine zentrale Funktionssteuerung fehlt“ (Reichholf). Im Ökosystem existiert keine Instanz, die festlegt, was zu geschehen hat. Der augenblickliche Zustand ist nicht anderes als der Ausgangspunkt für den nächsten Zustand. Das macht die Ökologie als Wissenschaft schwierig. Gesetze, wie sie die Physik formuliert, wird man aus ihr nicht ableiten können.

Das heißt aber natürlich nicht, dass man im Ungefähren verharren muss. Man kann zum Beispiel die ökologischen Lebensbedingungen von Korallen sehr genau beschreiben. So liegt die Temperatur, in der sie Riffe bildend tätig werden können, zwischen 20 und 30 Grad Celsius. Wenn das Meer 32 Grad warm wird, beginnen die Algen in den Korallen, die sie normalerweise mit Nährstoffen versorgen, Gift zu produzieren, und die Korallen stoßen sie ab. Damit verlieren die Korallenpolypen nicht nur ihre Farbe – es sind vor allem Blau-, Grün und Rotalgen, die in den Korallen leben –, sondern auch ihre Nahrungsgrundlage. Bleibt das Wasser über längere Zeit so warm, verhungern die Korallen und es bleibt ihr weißes Steinskelett zurück.

Die Korallenbleiche ist in den jetzt zu beobachtenden Ausmaßen tatsächlich ein neueres Phänomen, das in Zusammenhang mit der Erderwärmung gebracht werden kann. Korallenriffe sind aber ganz allgemein gefährdete Lebensräume, die zumindest in der Karibik Ausmaße an Zerstörung erreicht haben, die selbst die der tropischen Regenwälder übertreffen. Die Ursachen dafür sind vielfältig und haben auch etwas mit dem Tauchtourismus und dem Aquarienhandel seltener nur in Korallenriffen vorkommender Fische zu tun. Allein die Erderwärmung als Erklärung für die Zerstörung der Riffe verantwortlich zu machen, verengt den Blick. Außerdem sind Korallenriffe in begrenztem Maße in der Lage, sich von Wärmeperioden zu erholen, wenn es wieder kühler wird. Sie können neu von Algen besiedelt werden und weiter Kalk produzieren.

So war es denn auch im Film auf Arte. An den Rändern des Riffs fanden die beiden Biologinnen frische grüne Korallenfelder. Und sie konnten selbst die langsame Neubesiedlung der scheinbar toten bleichen Teile beobachten. Was auch zeigt, dass Ökosysteme nicht wie ein Organismus sterben, sondern einfach in einen anderen Zustand übergehen, von dem aus es in eine Richtung geht, die sich nur schwer vorhersagen lässt.

Mit einem biologischen Gleichgewicht hat das nichts zu tun. In Ökologie-Lehrbüchern wird der Begriff denn auch oft als „unklar“ definiert dargestellt. Es wäre besser, ihn ganz wegzulassen, denn sein alltagssprachlicher Gebrauch vernebelt die Zusammenhänge nur, anstatt sie zu klären.

Es gibt aber Hoffnung. Es ist jetzt etwa 30 Jahre her, dass die Verhaltensbiologie den Begriff „Instinkt“ verabschiedete und die Lehrbücher ohne ihn neu schrieb. Wo früher Leute eine Entscheidung „instinktiv“ fällten, tun sie es heute eher „aus dem Bauch raus“. Das ist zwar auch nicht viel präziser, aber immerhin näher dran an dem, was man tatsächlich gerade gegessen oder getrunken hat, also an jenen physiologischen Prozessen der Verdauung, die Hirnaktivitäten beeinflussen.