Auch dann, wenn es wehtut

AUS BREMEN EIKEN BRUHN

Im Auto sitzt ein Mann. Ein böser Mann. Einer, der Kinder in sein Auto zerrt, wenn sie nicht aufpassen, und dann schlimme Dinge mit ihnen macht. Nicht in Wirklichkeit, er tut nur so, als ob. Dafür bezahlt ihn der Verein Kronos aus Achim bei Bremen, der Kinder mit seinem „Giraffenkurs“ vor sexuellem Missbrauch schützen will. Und damit durch Grundschulen und Kindergärten in ganz Deutschland zieht.

Dass Kronos der Name eines Gottes ist, der seinen Vater entmannt hat, erwähnt Kursleiter Lothar Riemenschneider nicht gegenüber den Schülern und Schülerinnen einer Bremer Grundschule, die er an diesem Vormittag trainiert. Dafür erklärt er den Kursnamen: „Die Giraffe ist immer sicher.“ Weil sie den Überblick behält und keine anderen Tiere bedroht. Nein sagen haben sie auch geübt. Das dürfen Kinder, wenn Erwachsene etwas mit ihnen machen, was sie nicht wollen. Sagt Riemenschneider und wird auch schon mal laut, wenn die Kinder durcheinander reden und nicht so mitmachen, wie er das erwartet.

Die Kinderschützer

Workshops zum Thema Schutz vor sexuellem Missbrauch sind ein Renner in Deutschland. „Die Zahl der Präventionsangebote hat sich in den letzten Jahren verdoppelt“, sagt Silke Noack, Geschäftsführerin des Bundesvereins zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen. Einzelpersonen und Organisationen, die zu sexualisierter Gewalt arbeiten, haben sich in diesem Verein zusammengeschlossen. Kronos und andere, die in den letzten Jahren auftauchten, sind nicht dabei – auch nicht das „Sicher-Stark-Team“ aus dem rheinischen Euskirchen, selbst ernannter „marktführender Anbieter von Präventionskursen für Kinder im Grundschulalter“. Sie entsprechen nicht den Qualitätskriterien.

Kronos hebt sich aus der Masse der Anbieter durch seine prominente Unterstützung heraus. „Einen wertvollen, nicht zu unterschätzenden Beitrag im Kampf gegen Angriffe auf die sexuelle Unversehrtheit der schwächsten Mitglieder unserer Rechts- und Solidargemeinschaft“, attestiert ihm die SPD-Bundesjustizministerin Brigitte Zypries in einem Grußwort in der im Herbst erschienenen Vereinsbroschüre „Kronos-Kids“, einer Mischung aus Erziehungsratgeber, Eigendarstellung, Werbung und weltanschaulichem Rundumschlag. Lobende Worte kommen auch vom kürzlich zurückgetretenen CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer, von der ehemaligen Grünen-Vorsitzenden Angelika Beer und der FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper. In einem persönlichen Gespräch habe man sich von der Seriosität des Vorhabens überzeugen lassen, lassen die PolitikerInnen auf Anfrage der taz ausrichten. Das Kronos-Konzept decke sich mit eigenen Vorstellungen zu Prävention.

Fachleute in Behörden, Beratungseinrichtungen und bei der Polizei lassen hingegen kaum ein gutes Haar an Präventionskursen, wie sie Kronos oder das Sicher-Stark-Team durchführen: verängstigend, nicht kindgerecht, nicht geschlechtsspezifisch, einseitig auf Fremdtäter ausgerichtet – die Mängelliste ist lang. Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen warnt ausdrücklich vor „Ernstfall-Erprobungen“ wie der Autoübung. Die Kinder könnten dabei ebenso traumatische Erfahrungen machen wie bei einem echten Überfall. Und: Die meisten Missbrauchsopfer könnten nicht weglaufen, häufig noch nicht einmal Nein sagen. Denn die Täter kommen in der überwältigenden Mehrheit der Fälle aus dem Umfeld der Kinder.

Das Selbstbewusstsein von Kindern zu stärken reiche bei weitem nicht aus, sagt Silke Noack vom Bundesverein zur Prävention: „Kein Kind, und sei es noch so selbstbewusst, ist sicher vor sexuellem Missbrauch.“ Prävention sei in erster Linie Aufgabe der Erwachsenen. Kinder dürften niemals für den eigenen Schutz verantwortlich gemacht werden. Sonst „müssen die doch glauben, sie seien selbst schuld, weil sie sich nicht richtig verhalten haben“. Der Kronos-Vorstand reagiert auf derlei Kritik mit juristischen Schritten, dem Bundesverein wirft er „offensichtliches Konkurrenzdenken“ vor.

Doch Noack beharrt darauf, dass gute Angebote sich nicht nur an die Kinder richten, sondern über Fortbildungen auch die LehrerInnen einbinden. Prävention dürfe keine einmalige, auf einen Vormittag beschränkte Angelegenheit sein. „Erwachsene müssen lernen, die Signale eines Missbrauchs zu erkennen“, fordert Noack. Und dann wissen, was sie tun können. Kronos erfüllt diesen Anspruch nach ihrer Einschätzung nicht.

Darauf weist auch Gudrun Liebherz hin, verantwortlich für Sexualerziehung in der Hamburger Bildungsbehörde. „Wir haben Vertretern von Kronos in einem persönlichen Gespräch unsere fachlichen Bedenken deutlich gemacht“, sagt sie. Wie auch in Bremen hat die Schulaufsichtsbehörde alle Grundschulen per Rundschreiben über Qualitätskriterien zur Beurteilung eines Anbieters informiert.

Die Schulen engagieren Kronos trotzdem. Das schlagende Argument: Der Giraffenkurs wird kostenlos angeboten. RektorInnen empfehlen den Verein weiter, selbst wenn ihnen manche Sachen „suspekt“ vorkommen, etwa der Rektorin einer Hamburger Grundschule, die ungenannt bleiben möchte. Zu groß ist die Angst, mit einem solchen Eingeständnis ihre Schule in ein schlechtes Licht zu rücken.

Gudrun Liebherz von der Hamburger Bildungsbehörde hört so widersprüchliche Aussagen häufiger. „Einzelne Schulen laden Kronos ein, auch wenn es Zweifel an der Qualität des Angebots gibt.“ Kein Wunder, die Schulen stehen unter Druck. Von ihnen wird nicht nur erwartet, tipptopp ausgebildete Kinder zu produzieren. Sie sollen nebenbei auch noch die Auseinandersetzung mit Missbrauch, Gewalt, Sucht oder Fehlernährung leisten. Das fordern die Bildungspläne – und die besorgten Eltern.

Die Geldgeber

Konrad Schwarzenbolz ist sauer. Ein- bis zweimal die Woche wird er angerufen – von einem Callcenter, das Geschäftsleuten Anzeigenplätze in der „Kronos-Kids“-Broschüre verkauft, auch Büromaterial mit dem Kronos-Logo: 1.000 Selbstklebe-Fensterbriefumschläge für 105 Euro, plus Mehrwertsteuer. „Ich fühle mich belästigt“, sagt der Geschäftsführer der Firma Rommel im oberschwäbischen Laupheim; Heizöl und Tankstellen sind sein Geschäft. „Ich sage denen immer, dass wir uns vor Ort engagieren. Aber das interessiert die gar nicht.“ Dafür werde „die Dame am Telefon sehr schnell massiv aggressiv“. Schwarzenbolz: „Das geht dann nach dem Motto Wenn man nicht gegen Kindesmissbrauch ist, ist man dafür“.

Media Kontor Haug heißt das Hamburger Callcenter, das als „Hauptsponsor“ von Kronos auftritt und 10 Prozent des Gesamtumsatzes monatlich an den Verein abführen will. Das Pfund, mit dem die Callcenter-Agents wuchern, sind die Giraffenkurse. Die Masche zieht: Fast jede Seite von „Kronos-Kids“ ziert eine Anzeige.

Beim Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) in Berlin häufen sich indes die Anfragen nach dem Verein. Ob Kronos jemals das begehrte DZI-Spendensiegel bekommen wird oder, im Gegenteil, eine Warnung ausgesprochen wird, ist noch unklar. DZI-Geschäftsführer Burkhard Wilke will vor Abschluss seiner Recherchen kein Urteil abgeben. Aber: „Bei einer Überschneidung von gemeinnützigen und kommerziellen Interessen muss man sehr genau hinsehen, um die Seriosität beurteilen zu können.“

Die Erwachsenen

Mit dem Alltag sexueller Gewalt gegen Kinder werden ab heute Kinozuschauer konfrontiert. Keine angstgeweiteten Kinderaugen, keine bösen Männer, die Kinder in ihr Auto ziehen. Nur ein Lied aus dem Off und auf der Leinwand ein Mädchen, das mit einer Lupe spielt. „Guten Abend, gute Nacht, vom Onkel ins Bett gebracht, schlupft mit unter die Deck’, nimmt die Hand nicht mehr weg“, singt eine Kinderstimme dazu. „Morgen früh, so Gott will, wird es endlich entdeckt.“

45 Sekunden, mit denen der Präventions-Bundesverein seine bundesweite Beratungsrufnummer bekannt machen will. Die Botschaft des Kinospots: „Kein Kind kann sich alleine schützen.“ Erwachsene sind aufgefordert, sich zu informieren. Auch wenn es wehtut.