Ein bisschen Völkermord

Eine UN-Kommission entlastet die Weltorganisation von der Pflicht zum Eingreifen in Darfur

VON DOMINIC JOHNSON

Pflicht zur Strafverfolgung: Ja; Pflicht zum Eingreifen: Nein. Mit diesem sibyllinischen Urteil zu den Massakern und Vertreibungen im sudanesischen Darfur hat eine UN-Untersuchungskommission, deren Bericht gestern in New York veröffentlicht wurde, das Feld möglicher internationaler Maßnahmen gegen den anhaltenden Krieg weit geöffnet – und zwar so weit, dass das weitere Vorgehen noch unklarer ist als vorher.

Zwei Millionen Vertriebene und mindestens 100.000 Tote hat der Krieg in Darfur seit 2003 gefordert, und Frieden ist nicht in Sicht. Als „Völkermord“ bezeichnete der US-Kongress das Geschehen im vergangenen Sommer, und in diesen Zusammenhang stellte es UN-Generalsekretär Kofi Annan erstmals im April 2004 bei einer Gedenkveranstaltung zum 10. Jahrestag des Genozids in Ruanda. Im Herbst setzte der UN-Sicherheitsrat eine Untersuchungskommission ein (siehe Kasten), die unter anderem klären sollte, ob in Darfur „Akte des Völkermordes“ vorgekommen sind.

Die Kommission hat nun einen „Völkermord“ in Darfur verneint, nicht aber mögliche „Akte mit Völkermordabsicht“. „Das wesentliche Element der Völkermordabsicht scheint zu fehlen“, analysiert ihr Bericht im Hinblick auf die Politik der sudanesischen Regierung, aber „einige Individuen können Akte mit Völkermordabsicht verübt haben“. Die eindeutig festgestellten „Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ seien möglicherweise „nicht weniger ernst und abscheulich als ein Genozid“. Letztendlich müsse das ein Gericht klären, weswegen der Bericht dem UN-Sicherheitsrat empfiehlt, den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) mit einem Ermittlungsverfahren zu beauftragen.

Dies ist derzeit unwahrscheinlich, denn die USA sind wegen ihrer grundsätzlichen Ablehnung des IStGH gegen ein solches Verfahren und wollen lieber ein eigenes UN-Tribunal für Darfur. Dem widersprechen sämtliche EU-Staaten. Die Blockade ist komplett – nach der IStGH-Empfehlung dieses Berichts erst recht.

Der Kommissionsbericht nimmt kein Blatt vor den Mund, was das Ausmaß der Verbrechen in Darfur angeht. „Die meisten Angriffe waren absichtlich und wahllos gegen Zivilisten gerichtet“, heißt es. „Insbesondere befand die Kommission, dass Regierungstruppen und Milizen in ganz Darfur wahllose Angriffe verübten, einschließlich Tötung von Zivilisten, erzwungenes Verschwinden, Zerstörung von Dörfern, Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt, Plünderung und Zwangsvertreibung. Diese Akte wurden auf einer breiten und systematischen Basis durchgeführt und könnten daher Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.“

Aber bei der Wertung all dessen hält der Bericht sich zurück. Die Angriffe gab es „hauptsächlich zu Zwecken der Aufstandsbekämpfung“, heißt es, und daher „scheint das wesentliche Element der Völkermordabsicht zu fehlen, wenigstens insofern die Zentralregierung betroffen ist. Grundsätzlich beinhaltet die Politik, Angehörige eines Stammes anzugreifen, umzubringen und zwangszuvertreiben, keine spezifische Absicht, eine als rassisch, ethnisch, national oder religiös gekennzeichnete Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten“ – Letzteres ist die völkerrechtliche Definition eines Völkermordes.

Selten dürfte ein Völkermord so feinsinnig verneint worden sein wie mit dieser Unterscheidung zwischen Massakern mit und ohne Vernichtungsabsicht, gekoppelt mit der nicht auszuschließenden „Völkermordabsicht“ einzelner Personen. Dies entlastet die internationale Gemeinschaft, die rechtlich jetzt nicht zum Eingreifen verpflichtet wird; nicht aber Sudans Verantwortliche, denn Strafverfahren richten sich sowieso immer gegen einzelne Personen.

Die Personen, um die es gehen könnte, stehen in einem Anhang zum UN-Bericht, den Annan unter Verschluss hält. Um die IStGH-Frage zu umschiffen, sind bei der UNO jetzt gezielte Sanktionen gegen diese Personen im Sudan im Gespräch. Kofi Annan sprach sich am Wochenende dafür aus, und die USA haben einen entsprechenden Entwurf im UN-Sicherheitsrat eingebracht. Einigen Berichten zufolge koppeln die USA ihre Sanktionsforderung, die bei den ständigen Ratsmitgliedern Russland und China auf Ablehnung stößt, mit einem ebenfalls zur Beratung anstehenden Resolutionsentwurf für eine große UN-Blauhelmtruppe in Südsudan zur Überwachung des dortigen Friedensvertrages, über deren Einrichtung eigentlich internationaler Konsens besteht. Wann darüber befunden wird, steht noch nicht fest.

Eine klare Linie der internationalen Gemeinschaft ist also nicht abzusehen. Unmittelbar leidet darunter die Stellung der UNO in Darfur selbst, wo UN-Organisationen rund die Hälfte der zwei Millionen Menschen versorgen, die wegen Krieg und Vertreibung auf internationale Hilfe angewiesen sind. Der letzte UN-Lagebericht dazu von Ende letzter Woche flüchtet sich in Zynismus. „Dies war eine normale Woche nach Darfur-Maßstäben“, beginnt der Bericht. „Es gibt die üblichen Sicherheitsvorfälle, aus Sicherheitsgründen geschlossene Straßen, bewaffnete Angriffe (bestätigt und unbestätigt) an mehreren Stellen und mehrere einheimische Mitarbeiter von Hilfsorganisationen im Gefängnis. Nach den Maßstäben der meisten Hilfsprogramme auf der Welt wären die wöchentlichen Ereignisse in Darfur bedeutsam, aber hier werden sie als normal beschrieben.“