Blicke ohne Hierarchien

KINO DER INTIMITÄT Wie bin ich in die Situation auf der Kinoleinwand involviert? Eine Frage, die die verstörenden Werke des Filmemachers Stephen Dwoskin aufdrängen. Das Arsenal zeigt nun eine Retrospektive

Dwoskins Filme versteht man nicht, man erlebt und erfährt sie und erträgt sie manchmal fast nicht

VON EKKEHARD KNÖRER

Eine junge Frau, sie heißt, wie der Abspann sagt, Tina Fraser. Man sieht von dieser Frau das Gesicht und vom nackten Oberkörper, über den die langen Haare fallen, einen kleinen Teil. Die Frau liegt, wahrscheinlich im Bett, auf einem roten Laken. In der linken Hand, die man manchmal sieht und manchmal nicht, hält sie eine Zigarette. Die rechte Hand sieht man nicht. Ein Geräusch, das am ehesten nach einer Betonmischmaschine klingt, liegt unter den Bildern.

Die Einstellung bleibt starr, ändert sich während der zwölf Minuten des Films nicht. Was sich ändert, ist der Ausdruck des Gesichts. Sehr bald begreift man: Die Frau masturbiert. Sie hat einen Orgasmus. Und noch nach dem Orgasmus, wenn sich ihr Gesicht wieder entspannt, verharrt die Kamera in dieser Einstellung.

Das ist Stephen Dwoskins Film „Moment“ aus dem Jahr 1970. Er ist exemplarisch für das singuläre Werk dieses 1939 in den USA geborenen Filmemachers, der in den Sechzigerjahren mit einem Stipendium aus den USA nach Großbritannien kam und dort blieb. Dwoskin hatte als Designer und Maler begonnen, war aber bereits in New York mit ersten Kurzfilmen Teil der Underground-Filmemacher rund um Jonas Mekas gewesen. Auch in London stand er als Mitgründer der heute legendären Filmmakers Co-Op recht bald im Zentrum der im Aufbruch befindlichen dortigen Experimentalfilm-Szene.

Wieder und wieder filmt Dwoskin, wie in „Moment“, Frauen aus nächster Nähe. Anders als man zunächst denken sollte, ist der Blick seiner Kamera aber nie einfach voyeuristisch. Nur zum Schein rückt mancher Moment in „Moment“ und in anderen Filmen in die Nähe des Pornografischen.

Während in der Pornografie die völlige Eindeutigkeit und eine ganz klare Hierarchie zwischen abgebildeter Person und Betrachter herrschen, ist das Faszinierende an Dwoskins Arrangements genau die Auflösung dieser eindeutigen Blick-Hierarchien. Gerade weil die Bilder und Situationen, die man auf der Leinwand zu sehen bekommt, auf so uneingeschränkte Weise intim sind, stellt sich, je länger die Einstellung dauert, umso drängender die Frage: Wie genau, auf welche Weise bin ich als Betrachter (auch als Betrachterin) in diese Konstellation impliziert?

Diese Frage stellt Dwoskin immer wieder, am radikalsten in „DynAmo“ (1974), einem Film, der vollständig in einem trashigen Strip-Club spielt und den engen Raum zusätzlich dadurch begrenzt, dass er den Frauen, die er filmt, mit der Kamera immer näher rückt. Man kann diesen und andere, ähnliche Filme von Dwoskin nicht anders als mit extrem gemischten Gefühlen sehen. Das heißt aber auch: Sie packen einen unweigerlich.

Das strukturelle Interesse, das sie am filmischen Bild vom Menschen haben, ist nicht in erster Linie ein theoretisches. Dwoskins Filme sind immer schon auch in der Weise intim, dass sie alle Sinne herausfordern, dass sie einem an Herz, Verstand, Eingeweide und nicht zuletzt an die Nieren gehen. Und zwar mit den genuinen Mitteln des Kinos: in präzise gewählten Bildausschnitten, in Großaufnahmen von Gesichtern, Tränen und langsamen, zärtlichen, aber auch brutalen Bewegungen über Körperteile und Körper. Dazu fast immer außerordentliche Soundtracks auf der ganzen Skala von extremen Modulationen zur vollständigen Monotonie: klassische Musik, teils verfremdet; elektronische Loops, Rock von den Stones, malmende Geräusche, Elegisches und Enervierendes.

Dwoskins Filme versteht man nicht, sondern man erlebt und erfährt sie und erträgt sie manchmal fast nicht. Einer der jüngsten, „The Sun and the Moon“ (2007), ist im Abspann explizit als Variation auf die Schöne und das Biest markiert. Hier verfährt die Kamera mit Dwoskin selbst so gnadenlos wie in den frühen Filmen mit den Frauen. Nicht zum ersten Mal. Diesen autobiografischen Strang gibt es seit „Behindert“ (1974), den der seit einer Polio-Erkrankung gelähmte Dwoskin in deutscher Sprache und fürs deutsche Fernsehen drehte. Darin inszeniert er seine nicht zuletzt wegen seiner Behinderung gescheiterte Beziehung mit der Schauspielerin Carola Regnier mit sich und ihr selbst quasidokumentarisch nach.

Das Verhältnis der Figuren in „The Sun and the Moon“ zueinander ist weniger klar. Deformiert, ja ausdrücklich (un)tierhaft liegt der Filmemacher mit aufgedunsenem Oberkörper und dürren Beinen auf einem Bett. Er – oder der Film – hat Visionen einer jungen Schönheit, das gibt den denkbar schärfsten Kontrast zum beinahe monströsen alten Mann. All das spielt in nie klar definierten Innenräumen; eine weitere Frau, die bei Dwoskin seit langem auftretende Beatrice Cordua, ist als unheimliche Dritte im Bund. Naturaufnahmen, buchstäblich die Sonne, buchstäblich der Mond. Das Entsetzliche und das Schöne stehen bei Dwoskin in den intrikatesten Verhältnissen. Die Retrospektive im Arsenal macht es nun möglich, einen der verstörendsten und faszinierendsten Filmemacher unserer Zeit zu entdecken.

■ Noch bis 22. Juni im Arsenal, www.arsenal-berlin.de