: Geschätzte Verhältnisse
Das Delmenhorster Sozialamt ist bekannt dafür, jüdischen Russen ihre Angaben über Immobilienbesitz nicht abzunehmen. Rechtswidriges Verhalten wird jetzt offiziell bestätigt
von Dirk Auer
Diesen einen Tag im Herbst 2001 hat Pavel Ivanov (Name von der Redaktion geändert) noch in lebhafter Erinnerung. Es war der Tag seiner ersten Anhörung im Delmenhorster Sozialamt. Als jüdischer Kontingentflüchtling war er wenige Monate zuvor nach Deutschland gekommen und musste nun lernen, dass seine mitgebrachten Dokumente, die Auskunft über die Höhe des Verkaufserlöses seiner Wohnung in Kiew geben, nichts zählen – zumindest dann nicht, wenn ein Abteilungsleiter der Auffassung ist, dass für „diesen Personenkreis die Nichtangabe von Vermögenswerten im Heimatland obligatorisch“ sei, wie dieser es zwei Jahre zuvor gegenüber dem niedersächsischen Innenministerium formuliert hatte.
„Man wollte, dass ich eine Erklärung unterschreibe, in der ich einen vielfach höheren Verkaufspreis anerkenne“, berichtet Ivanow. Man habe ihm angeboten, dann für eine bestimmte Zeit 100 bis 200 D-Mark monatlich von seiner Sozialhilfe abzuziehen und ihm zugesichert, „kein Mensch würde je etwas davon erfahren“. Ivanow jedoch weigerte sich, worauf das Amt die Zahlung der Sozialhilfe mit sofortiger Wirkung einstellte.
Klagen wie diese waren in den vergangenen Jahren häufiger zu hören – seitdem sich die Stadt Delmenhorst entschlossen hatte, nach angeblich verschwiegenen Immobilienvermögen in den Herkunftsländern von jüdischen Kontingentflüchtlingen zu forschen. In Eigenregie wurden Wertgutachten in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse jedoch, so die Kritiker des Verfahrens, mit den real erzielbaren Marktpreisen nur sehr wenig zu tun hatten. Dazu kam die Klage von Betroffenen über schikanöse Prüfungs- und Verhörmethoden.
Zwar ist es in der letzten Zeit etwas ruhiger geworden, wie Pedro Becerra, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, bestätigt. Doch in der Zwischenzeit haben die Schilderungen der Kontingentflüchtlinge amtliche Rückendeckung bekommen: durch einen Bericht der Bezirksregierung Weser-Ems, die ihre rechtsaufsichtliche Prüfung noch rechtzeitig vor ihrer eigenen Auflösung abschließen konnte. Und die Ergebnisse bergen für die Stadt einigen Sprengstoff.
Die Proteste der Einwanderer, so heißt es dort nämlich, hätten sich „dem Grunde nach als berechtigt erwiesen“. Das spezielle Verfahren der Stadt, auf die Verwertung angeblichen Immobilienvermögens zu dringen, sei „unter vielen Aspekten rechtswidrig“, und auch die Gutachten der ukrainischen Firma Dobson, mit der die Stadt Delmenhorst lange Zeit zusammenarbeitete, genügten ganz offensichtlich nicht hiesigen Maßstäben – werde doch in den meisten Fällen die zu schätzende Immobilie noch nicht einmal besichtigt.
Die Bezirksregierung hält auch den Verdacht der Befangenheit des Abteilungsleiters für berechtigt. Eine ganze Reihe von Indizien sprächen dafür, dass dieser seine Fälle ganz offensichtlich nicht mit der gebotenen Neutralität bearbeite. Er wurde mittlerweile versetzt – allerdings nicht wegen seines Verhaltens sondern aufgrund notwendiger Umstrukturierungen im Zuge der Hartz-Reform.
Die Stadt Delmenhorst glaubt, die Vorwürfe gegen sie entkräften zu können. Wie, das wolle man erst sagen, wenn das niedersächsische Sozialministerium sich zu den Vorfällen geäußert hat, sagte Sozialdezernent Friedrich Hübner auf Anfrage der taz. Das Ministerium hat einen Prüfauftrag erteilt und bereitet eine Stellungnahme vor.
Pavel Ivanow kann nur noch auf späte Genugtuung hoffen. Denn nachdem er über ein Jahr nur von privaten und kirchlichen Zuwendungen lebte, hat ein Gericht ihm einen Anspruch auf Sozialhilfe zugesprochen – mit der Begründung, dass selbst wenn er einmal Vermögen gehabt hätte, es inzwischen aufgebraucht sein müsste.