Jungfräuliche Katastrophe

Der lustige Schiedsrichterskandal und die Verbissenheit der Unterhaltungsbranche

Der schöne Stoff überfordert die Beteiligten, die sich einfach nicht freuen wollen

Was machen die Deutschen, wenn sie einmal richtig Grund zum Lachen hätten? Sie sind beleidigt und rufen nach der Polizei. Dabei bot die Tag für Tag prachtvoller sich entfächernde Schmierengeschichte um verschobene Fußballspiele nahezu alles, was das Zuschauerherz begehrt: Ein schwacher, bestechlicher junger Mann, der in der Unterhaltungsindustrie beschäftigt ist, muss auf einmal dringend darüber reden und stürzt über seine Prahl- und Plaudersucht. Auch andere in der Branche sind in Nebenerwerbsangelegenheiten verwickelt. Als wahrhaft Schuldige aber schimmern im Hintergrund illustre fremdländische Dunkelmänner auf, die von einer Berliner Schieberbasis aus operieren, die auch noch den grandiosen Gaunernamen „Café King“ trägt.

Wunderbar, was will man mehr? Zu betrachten ist eine Petitesse der Weltgeschichte, niemandem ist ernsthaft etwas passiert, alle Beteiligten sind unverletzt und wohlauf. Gegeben wird das Stück um den geständigen Schiri-Jungschurken Robert Hoyzer, eine in Ku’damm-Nähe ansässige kroatische Kaschemmen- und Wettmafia, heillos stammelnde Fußballfunktionäre und kraftvoll sich anflanschende Politiker. Es ist großes Sittenkasperletheater mit prima abgeschmacktem Personal; man kann sich zurücklehnen und die hübsche kriminelle Trivialminiatur genießen.

Doch der schöne Stoff überfordert die Beteiligten, die sich nicht freuen wollen, sondern heulen. Beweint werden ganz überraschende Verluste: „Der deutsche Fußball hat zum zweiten Mal seine Jungfräulichkeit verloren“, formuliert, Hut-ab!-tauglich, ARD-„Sportschau“-Chef Steffen Simon. Und ich dachte immer: Was weg ist, ist weg. Dem deutschen Fußball wurden schon oft Wunder angedichtet; dieses Mal ist es ein anatomisches.

Schiedsrichter Dr. Markus Merk, gemeinsam mit Dr. Dralle und Dr. Oetker einer der auch international angesehensten deutschen Akademiker, bricht im Katastrophenfachblatt kicker zusammen: „Mein bürgerliches, familiäres und berufliches Leben ist gestört, meine Betroffenheit heftig.“ Weil das vielleicht noch nicht ausreicht für eine Führungsposition in den Charts der Fassungslosen, geht Merk auf Nummer sicher und beschwört die Rhetorik des Ground Zero: „Nach diesem Schock ist nichts mehr so, wie es war.“ Seit dem Elftenseptember ist es Medienmode geworden, etwa alle drei Tage ein neues Ereignis auszurufen, nach dem angeblich nichts mehr so ist wie zuvor. Teil dieser Inflation ist auch Merks Auftritt als hysterische Spitzmaus.

Als wäre das Land geschändet, als lägen Frauen und Kinder in Trümmern, sind alle sich einig: Verheerend sei der Vorgang und der Schaden gar nicht wiedergutzumachen. Was ist los? Fußball, sagt man, ist Religion – wurden also religiöse Gefühle verletzt? Längst hat der Fußball seine spirituelle Kraft eingebüßt – übrig geblieben ist ein Großunternehmen im Marktsegment Massenunterhaltung. Franz Beckenbauer als Stroh- und Frontmann des Gewerbes weiß das selbstverständlich: „Das ist eine Katastrophe, auch für die WM 2006“ – die er, O 2 can do, nach Deutschland holte auf einer langen Werbereise um die Welt, in seinen Koffern nichts als gute Worte.

Höchste Zeit also für die Ordnungskräfte, sich einzuschalten: Otto Schily greift ein, der Mann, der sich selbst das Prädikat „besonders wertvoll“ gibt und gern Kontakt aufnimmt zur Harnröhre des Hauses Springer. Schily meldet sich in Bild zu Wort und verlangt ebendort „schnelle und lückenlose Aufklärung der Schiri-Affäre statt Schmuddelgeschichten und Gerüchteküchen“. Kategorisch ist sein Bannstrahl: „Überführte Betrüger haben im Profi-Fußball nichts mehr zu suchen.“ Müssen die dann alle Bundestagsabgeordnete werden?

Otto Schilys schneller Profilgewinn setzt die Konkurrenz unter Zugzwang, ebenfalls nach „energischem Durchgreifen“ zu rufen. Edmund Stoiber schnellt sich von München in die Welt und fordert „lebenslänglich“ für alle – zwar nur Sperre und nicht Knast, aber man kann seine Einsätze ja steigern. Kurt Beck, ebenfalls Ministerpräsident, kreischt „Aufklärung! Aufklärung! Aufklärung!“ Man muss kein Bildungsbürger sein, um bei Aufklärung eher an Voltaire zu denken als an einen Sozialdemokraten aus der Pfalz, der auch mal in die Schlagzeilen möchte.

Der DFB, auch eine ganz prächtige Versammlung von Ganoven und Wracks, „arbeitet fieberhaft rund um die Uhr.“ Schiedsrichter werden ausgetauscht, neue Ermittlungen aufgenommen, und alle Vereinsmeier sind entrüstet. „Juristische Schritte“ werden angekündigt, „alle zur Verfügung stehenden Mittel“ sollen ausgeschöpft werden, es hagelt eidesstattliche und andere Erklärungen, es wird verlautbart und dementiert, Sportjournalisten blasen die allenfalls zweit- bis drittrangige Angelegenheit zu einem „Hoyzergate“ auf, Schadenersatzforderungen werden angedroht, Pressekonferenzen abgehalten, „verleumderische Berichterstattung“ wird angeprangert und Zuflucht zu „anwaltlicher Hilfe“ genommen, von „weiteren Durchsuchungen“ und „Haftbefehlen“ wird berichtet, der Hühnerhaufen Fußballdeutschland bringt es stündlich zur Erstmeldung in den Nachrichten – und niemand lacht.

Speziell in Berlin drehen sie – Hauptstadt! Hauptstadt!! – richtig durch, wegen eventueller Verstrickung des ortsansässigen Erstligaclubs. „Der Ruf des Vereins“ stehe auf dem Spiel, heißt es, doch diese Sorge ist gering: Welcher Ruf? Hertha BSE war bisher noch bei jedem Skandal dabei, und die miefige, schäbige Grandezza, die der Name „Café King“ verströmt, passt zu Hertha wie Fleischwurst zu Uli Hoeneß.

Empör, empör, empör, Brüder zum Lichte empör!, singt die Branche verbittert – die abgegebenen Ehrenerklärungen erinnerten sehr an die von Helmut Kohl und Uwe Barschel. Nur baden ging keiner. WIGLAF DROSTE