: Das hier ist wirklich nicht Seattle, Dirk!
Dirk von Lowtzow, Sänger der Band Tocotronic, fährt mal nach Freiburg zu seinen Eltern. Eine Kurzgeschichte
Manchmal muss Dirk von Lowtzow nach Freiburg zu seinen Eltern fahren. Seine Eltern wissen wenig von ihm, sie haben zwar versucht, seine Platten zu hören, um zu verstehen, was seit der Pubertät mit ihrem Sohn vorgeht, aber keinen richtigen Gefallen daran gefunden. Beim Essen herrscht peinliche Stille, bis seine Mutter das Eis mit einer Frage bricht: „Na, Dirk, musizierst du eigentlich noch?“
„Ja, Mutti. Ich hab dir meine neue Platte mitgebracht. Die ist gerade erschienen und heißt ‚Pure Vernunft darf niemals siegen‘.“
„Oh, schön, die kann ich ja dann der Oma schenken, wenn wir sie besuchen. Oder meinst du, das ist nichts für die?“
„Ich weiß nicht, Mutti.“
„Kannst du deinen Freunden nicht mal sagen, sie sollen nicht immer so laut spielen? Man hört deine Stimme immer so schlecht. Denk doch mal an die Leute, die sich das anhören wollen.“
Dirk von Lowtzow ist jedes Mal genervt, wenn er seine Eltern in Freiburg besucht. Er denkt an seine Bandmitglieder, die jetzt das Gleiche erleben. Wenn seine Eltern wenigstens Nazis wären! Oder Alkoholiker. Aber seine Eltern sind so furchtbar normal, es würde sie nicht mal stören, wenn er schwul wäre.
Jetzt stellt ihm seine Mutter eine Frage, die ihr schon lange auf der Seele liegt: „Dirk, warum lasst ihr eigentlich kein Mädchen in euer Band mitspielen? Findet ihr keine, die Lust hat? Soll ich die Heike mal fragen, das ist die Tochter von unserer Briefträgerin, die singt so schön im Chor.“
„Mutti, wir sind vollzählig.“
„Aber für die wäre das was ganz Tolles, bei euch mitzumachen. Die muss doch mal aus sich rauskommen. Vielleicht gefällt die dir ja auch, das ist ein richtig nettes Mädchen.“
„Mutti, ich hab doch eine Freundin.“
„Davon weiß ich ja gar nichts. Wo kommt die denn her?“
„Die ist aus dem Osten.“
„Und die gefällt dir besser als unsere Heike?“
„Ich kenn eure Heike doch gar nicht.“
„Na, dann trefft euch doch mal. Du kannst sie ja zu uns einladen, das macht mir gar nichts aus. Und Papa auch nicht, nicht wahr, Papa?“
„Was? Ich hab nicht hingehört.“
„Siehst du, Papa freut sich genauso.“
„Mutti, aber ich wohn doch in Berlin, was soll ich denn mit einer Freundin hier in Freiburg.“
„Siehst du, das ist das andere, was ich mit dir besprechen wollte. Wann kommst du endlich wieder zurück? Der Papa kann dir eine Stelle in seinem Betrieb besorgen, da kannst du gleich anfangen, nicht Papa?“
„Was? Ich hab nicht hingehört.“
„Siehst du, der Papa macht das. Enttäusch ihn nicht. Soll ich die Heike gleich anrufen?“
„Mutti, ich bin doch aber gar nicht in die verliebt!“
„Ach, was, verliebt. Wenn du dich in eine aus dem Osten verliebst, kannst du dich auch in die Heike verlieben. Oder willst du das arme Mädchen kränken? Die hat es schon schwer genug mit ihrer Brille. Und jetzt kommst auch noch du. Ihr müsst mal lernen, auch an eure Mitmenschen zu denken, schließlich kaufen die eure Platten. Bei der letzten waren wieder so viele unanständige Wörter mit drauf. Sagt denn deine Plattenfirma da gar nichts?“
Nach dem Essen steht Dirk von Lowtzow immer auf und geht in sein altes Kinderzimmer. Er nimmt seine Gitarre von der Wand und schreibt einen neuen Song:
„Unsere Eltern haben keine Sensibilität
für einen Lebensstil, der diese Republik schon seit so vielen Jahren überaus erfolgreich unumkehrbar prägt
der Rock’n’Roll hat ihre Seelen nie erreicht
sie fragen sich, wer ihre Schulden später vielleicht doch noch mal voraussichtlich sehr widerwillig, aber letztlich doch begleicht.“ JOCHEN SCHMIDT