: Diskursfreie Zone
Moskau feiert unter dem Motto „Dialektik der Hoffnung“ einen Monat lang seine erste Kunst-Biennale. In nicht weniger als 60 Ausstellungen gibt es eine riesige Ansammlung von Kunstwerken
VON MEIKE JANSEN
Noch nie standen der aktuellen Kunst in der russischen Hauptstadt so viele Räume offen wie in diesen Wochen: Etwa 60 Ausstellungen kann Joseph Backstejn, Koordinator und einer der Initiatoren der ersten Moskau-Biennale, als Erfolg für seine Bemühungen verbuchen. Mit seinem fünfköpfigen Jetset-KuratorInnenteam, bestehend aus Daniel Birnbaum (Frankfurt am Main), Iara Boubnova (Sofia), Nicolas Bourriaud (Paris), Rosa Martinez (Istanbul) und Hans Ulrich Obrist (Paris), öffnete sich das Tor in den Westen ein Stück weiter. Für die drei speziellen Biennale-Orte erarbeitete die Gruppe ein Programm, das 40 KünstlerInnen und Gruppen aus 20 Nationen präsentiert.
Im Mittelpunkt des Festivals steht das Lenin-Museum, das die letzten zehn Jahre für die Öffentlichkeit geschlossen blieb. Die internationalen Gäste waren bei der Eröffnung allerdings über den Lenin-Propagandafilm verwundert, der als Endlos-Loop – inmitten der Kunst – im feudalen Saal des ersten Stocks zu sehen war. Dieser Raum, in dem, wie ein russischer Künstler erklärte, einst die Jungpioniere vereidigt wurden, scheint ein Tribut an die Moskauer Bevölkerung zu sein. Nun stolpern die BesucherInnen auf dem Weg in die Vergangenheit wortwörtlich über die für sie vollkommen ungewohnten Darstellungsformen aktueller Kunst. Rund 25 international agierende KünstlerInnen aus 18 verschiedenen Ländern sind auf den drei Etagen verteilt. Genau lässt sich das nicht sagen, da keine Übersicht herauszufinden hilft, wer an welchem Biennale-Standort zu finden ist.
Von Rostian Tavasievs monumentaler Maschine, die Plüschhäschen ausspuckt, bis zum Gefrierraum von Micol Assaël sind nahezu alle Werke bereits im Voraus ausgestellt worden. In Moskau geht man eben auf Nummer sicher und lässt sich keine unbekannten und daher womöglich unbequemen Positionen unterschieben. Auch die Kunst im öffentlichen Raum ist ein schwieriges Thema, nicht nur wegen des klirrend kalten russischen Winters. So scheint etwa die Biennale eher Europas größte Metrostation Vorobievi Gori präsentieren zu wollen als die dort gezeigten Videoarbeiten von John Bock und den PuertoricanerInnen Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla.
Dritter Biennale-Standort ist das Schusew-Museum für Architektur als temporäres Zentrum für Film- und Videokunst. Die stärksten Arbeiten hier: Clemens von Wedemeier mit einer surrealistischen Geschichte über eine junge Frau, die Russland verlassen möchte, aber im Endlos-Loop der deutschen Bürokratie gefangen bleibt, sowie die Spanierin Pilar Alabarracín, die in ihrem Video vor einer „Viva España“ blasenden Kapelle zu flüchten versucht. Nationale Identitäten lassen sich eben nie ganz verleugnen, auch wenn dies von den KuratorInnen gewollt ist, die nur im Katalog die Herkunftsländer der KünstlerInnen nennen.
Eine der atmosphärisch stärksten Arbeiten ist im Rahmen des Spezialprogramms zu finden. Das Environment des Franzosen Christian Boltanski in einer an das Schusew-Museum angrenzenden Ruine zeigt abgenutzte Mäntel, die wie die Seelen von Toten im Raum schweben. Die kleinen matt leuchtenden Lämpchen, die Boltanski dazwischen montierte, wirken wie Mut machende Geister, so dass man jederzeit hofft, die Seelen bewegen sich gen Himmel und finden Erlösung. Doch nichts bewegt sich. Egal auf welchem Gerüst man auch steht, wie sehr der Wind um das zugige Gemäuer peitscht: Die Welt bleibt starr.
Im Museum für zeitgenössische Kunst an der Ermolaewsky-Straße werden die vier russischen Stars, Oleg Kulik, AES, Vlad Mamshev-Monroe und Vinogradov/Dubosarsky, auf jeweils einer Etage gefeiert; im Museum für zeitgenössische Kunst an der Petrowka stapeln sich dagegen mehr als 40 KünstlerInnen und mehrere Videoarchive unter der Überschrift „Gender Troubles“. Die Wirkung der Werke tritt zwangsläufig hinter der Menge der gezeigten Exponate zurück. Dabei gibt es im ersten Stock noch 10 weitere im Ausland lebende RussInnen, die in der „Post-Diasporas“-Schau gezeigt werden. Provokant politisch wird es dann – wenigstens ab und an – im Haus der Künstler, wo der Galerist Marat Guelman die Gruppenausstellung „Russia 2“ präsentiert. Darunter auch eine neue Arbeit Oleg Kuliks – eine Bushaltestelle mit dem Bild einer Selbstmordattentäterin, die zu Füßen eines bröckelnden sozialistischen Denkmals erschöpft in einem roten Sessel liegt. Unschwer findet man darin das Bild der „schwarzen Witwen“ wieder, die 2002 in Moskau das Musical-Theater Nord-Ost besetzt und 800 Geiseln genommen hatten. Doch eingezwängt in einem Museumsraum zwischen all den Exponaten kommt die Installation nicht zur Wirkung. Wie kolossal wäre diese aber, würde die Installation zum Tabuthema Tschetschenien wirklich öffentlich gezeigt?
Weitere Einblicke in die politische Kunst seit 1975 vermittelt die „Stop Hope!“-Ausstellung, die Sasha Sokolov kuratierte. Man könnte also meinen, Moskau wäre in Europa angekommen, wäre da nicht die Tretjakow-Galerie. Andrei Jerofejew, Sammler und Leiter eines Raums für aktuelle Kunst in der Tretjakow, verweist mit „Accomplices: 1960–2000“ auf die russische Tradition der Künstlergruppen. Um welche es sich handelt, können aber nur die, die des Kyrillischen mächtig sind, ersehen. Das Aufhängen der bereits angefertigten Hinweistafeln in lateinischer Schrift wurde vom Direktor des Museums untersagt, der Katalog ist eine Sammlung von Bildern.
Der Hinweis der russischen Kuratorin Katja Degot auf einer der wenigen Diskussionsveranstaltungen, dass in der nicht übersetzten Eröffnungsansprache von Kulturminister Michail Schwidkoi die Rede davon war, dass es sich „nur um Kunst handele“, ist eine weitere informative Stecknadel im Haufen der visuellen Fülle. Doch sie allein kann das Motto „Dialektik der Hoffnung“ nicht in den Diskurs umsetzen, den eine Biennale verspricht.