: Messe der Gerechtigkeit
Das Weltsozialforum in Porto Alegre bietet den Teilnehmern eine grandiose Gelegenheit, Informationen, Adressen und Ideen auszutauschen. Das war es dann aber auch
Es ist dem Weltsozialforum in Porto Alegre dieses Jahr nicht gelungen, die großen Zeichen zu setzen. Das Forum als solches hat – falls es sie jemals hatte – seine politische Interventionsfähigkeit verloren. Das schon zwanghafte Festhalten des Internationalen Rates an der „Horizontalität“, also dem breit angelegten Markt der Möglichkeiten unter mehr gefühlten als ausgesprochenen gemeinsamen Prämissen, ist dieses Jahr noch weiter verschärft worden. Nicht nur musste das Forum – wie schon die Jahre zuvor – ohne gemeinsame Abschlusserklärung auskommen. Das hat durchaus Sinn, würde doch jede Debatte unter der mehr oder weniger zufälligen TeilnehmerInnenschar über einzelne Formulierungen vermutlich mehr Kräfte absorbieren, als die dann verabschiedete Erklärung zu mobilisieren in der Lage wäre. Aber der Verzicht auf zentrale Veranstaltungen bedeutet natürlich auch den Verzicht darauf, die Agenda zu bestimmen – nicht nur die des Forums selbst.
In der internationalen Aufmerksamkeit war es in diesem Jahr Davos, wo neue Akzente gesetzt wurden, nicht Porto Alegre. Ein nur von manchen erwünschter Nebeneffekt davon war, dass Venezuelas Präsident Hugo Chávez den lautstarken Schlusspunkt unter das Weltsozialforum setzen konnte. Dem misstrauen zwar auch viele der Forumsteilnehmer. Aber große Teile der linken Jugend Lateinamerikas verehren ihn, und Fans wie der Le-Monde-diplomatique-Chef Ignacio Ramonet vergöttern Chávez geradezu und sind innerhalb des Internationalen Rates des Forums einflussreich genug, um ihm das Schlusswort zu organisieren. Man kann nur hoffen, dass der Forumsmythos noch ausreicht, damit Chávez’ Aufruf zu Sozialismus und internationaler Konspiration gegen den Neoliberalismus international nicht als Forumsposition allzu ernst genommen wird.
Ob in anderer Organisationsform mehr unmittelbar Sichtbares entstanden wäre als die wie immer verabschiedete Mobilisierungsagenda der „Versammlung der sozialen Bewegungen“ und das Manifest der 19 Intellektuellen, ist zu bezweifeln. Dieses Manifest leidet ja nicht nur darunter, dass es kein richtiges Abschlussdokument ist – sondern vor allem darunter, dass seine Forderungen allesamt seit langem bekannt sind. Es ist insofern tatsächlich konsensfähig innerhalb des Forumsvolkes, zieht man jene sehr lautstarken Linksgruppen einmal ab, die jede auch nur entfernt realisierbare Forderung für letztendlich konterrevolutionär halten. Nur – eine Nachricht ist das nicht.
Immerhin haben sich ein paar Themen in der Agenda einige Plätze nach oben gedrängt. Die Aufmerksamkeit, die der Kampf gegen die Privatisierung und Ausbeutung der Ressource Wasser erfahren hat, ist sicher ein Ergebnis der guten Vernetzung der entsprechenden Initiativen auf dem Forum. Untermauert wird es von den Erfolgen, die gefeiert werden konnten – etwa der Rauswurf der transnationalen Firma Suez aus dem bolivianischen El Alto und das erfolgreiche Antiprivatisierungsreferendum in Uruguay. Wer das Forum als einen Ort sieht, der inhaltlich wie emotional seinen TeilnehmerInnen einen Motivationsschub verpassen soll, kann darüber nur zufrieden sein.
Aber das ist es eben: Das Weltsozialforum richtet seine Energie nach innen. Es ist eine riesige Messe der Gerechtigkeit. Was für den Handelsvertreter auf der Grünen Woche neue Vertragsabschlüsse, sind für die sozialen Bewegungen in Porto Alegre neue Informationen, Eindrücke und Ideen, neue E-Mail-Adressen – und womöglich neue Förderung durch internationale Nichtregierungsorganisationen. Dazu kommt die simple Tatsache, dass sich viele kluge Köpfe zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden und diesen Termin schon Monate vorher im Jahreskalender fest vermerkt haben. Das schafft so viel Raum für Vernetzungen unterschiedlichster Art, wie sie sonst nur übers Jahr verteilt mit noch viel mehr finanziellem Aufwand zu organisieren wäre – wenn überhaupt.
Davon profitieren die nationalen und internationalen Kampagnen, ob es nun um Wasserprivatisierung, den Kampf gegen die Patentierung von Leben oder die internationale Verschuldung geht, teilweise kurz-, vor allem aber mittelfristig. Wer diesen Aspekt nicht sieht, muss natürlich, wie Andreas Zumach kürzlich in einem Kommentar, zu der Auffassung gelangen, das Forum sei als kraftraubende internationale Großveranstaltung an den Rand der Sinnhaftigkeit gelangt. Das würde stimmen, wenn das Weltsozialforum für die teilnehmenden Organisationen der Kulminationspunkt ihrer Arbeit wäre – das aber gilt höchstens für die unmittelbaren Organisatoren. Für die große Mehrheit der teilnehmenden Initiativen ist das Forum jedoch eher Ausgangs- als Endpunkt ihrer Aktivitäten.
Das ist freilich etwas völlig anderes als die klassische Konstellation, in der sich Gipfelteilnehmer und Gegendemonstranten gegenüberstehen, die für die globalisierungskritische Bewegung in den ersten Jahren so charakteristisch war. Dass das Forum weiterhin parallel zum Weltwirtschaftsforum in Davos tagt, bekräftigt zwar diese halb mystische Ihr-da-oben-wir-hier-unten-Inszenierung, hat aber mit der tatsächlichen Bedeutung des Weltsozialforums heute nicht mehr viel zu tun. Das aber ist kein Niedergang, sondern tatsächlich eine Vertiefung jener Grundidee, die das Forum eben auch einmal geprägt hat: Der Kapitalismus ist schon international verzahnt – jetzt organisieren wir uns auch. Vielleicht sollte sich das Forum einfach vom Davos-Bezug verabschieden. Es hat den Termin des Reichen-Treffens in der Schweiz ohnehin nicht mehr nötig, um auf sich aufmerksam zu machen, und könnte dann nicht mehr aufgrund falscher Erwartungen als gescheitert erklärt werden.
Die jetzt beschlossene Dezentralisierung im kommenden Jahr birgt das Risiko – das allerdings auch bei einer simplen Neuauflage in gleicher Form bestanden hätte –, dass die Forumsidee zerfällt und trotz gleichbleibendem Aufwand an Schwung verliert. Zumal die Gefahr der Vereinnahmung bei dezentralen Foren noch größer ist als jetzt: Die Erfahrungen der europäischen Sozialforen waren bislang ernüchternd, das lateinamerikanische Forum in Venezuela im nächsten Jahr dürfte – zumindest in der Außenwirkung – eine staatlich organisierte Solidaritätsveranstaltung für Chávez’ bolivarianische Revolution werden, begleitet von heftigen internen Fraktionskämpfen.
Dennoch ist es vermutlich ein Segen, dass das Forum zumindest nicht mehr in Porto Alegre stattfinden wird. Wer sich mit Mitgliedern des Internationalen Rates unterhielt, konnte unter der Hand viel über die mangelnde Transparenz und die interne Verfilzung – insbesondere des brasilianischen Organisationskomitees – erhalten, über die vielen unterschiedlichen Interessen und Begehrlichkeiten, die eine solche Massenveranstaltung weckt, und über die wenig solidarischen Formen, wie diese Konflikte ausgetragen wurden. Willkommen in der realen Welt. Die „andere“ lässt noch auf sich warten. BERND PICKERT