Ein Ausbruch in elf Bildern

THEATER HINTER GITTERN Mit Heiner Müller und Bertolt Brecht macht der Regisseur Peter Atanassow Theater in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Der historische Hannibal-Stoff wird auf das 20. Jahrhundert projiziert

Im Blick der Überwachungskameras zeigt Atanassow Theater im Theater

VON CHRISTINA FELSCHEN

Wie ein Panzer aus Menschenleibern schiebt sich eine Armee in grünen Ponchos über den Freistundenhof der Justizvollzugsanstalt Tegel. „Wir kommen vielleicht nie heraus aus diesem Kessel“, brüllt die Stimme eines Kommandanten. Ein Lachen dröhnt aus dem Dunkel der vergitterten Fenster und selbst die Raben auf den Dächern krächzen höhnisch. Denn da spricht nicht nur der Kommandant aus Heiner Müllers Drama „Wolokolamsker Chaussee“ (1984–86), sondern auch der Schauspieler selbst, Insasse der größten europäischen Haftanstalt für Männer. Gestern öffneten sich ein Dutzend Gefängnistore zu einer ungewöhnlichen Premiere: Mit 30 Gefangenen der JVA hat das Kunstprojekt „aufBruch“ eine Stückcollage in elf Bildern nach Heiner Müller und Bertolt Brecht („Hannibal“, 1922) inszeniert.

Beide Dramen verleiben sich den historischen Hannibal-Stoff ein und projizieren ihn auf die Konflikte des 20. Jahrhunderts. So zieht Heiner Müller eine Parallele zwischen dem Untergang Karthagos 220 v. C. und dem Zerfall des Ostblocks 2.000 Jahre später. Regisseur Peter Atanassow ergänzt den Stoff in seiner Collage um eine dritte Geschichtsebene: Er vergleicht die maschinengleiche Armee Karthagos, die die Identität und Moral des Einzelnen außer Gefecht setzt, mit der Wehrmacht.

Die Häftlinge in der Rolle der kämpferischen Karthager reproduzieren das Bild, das das Publikum von ihnen hat, und konfrontieren es mit seinen Vorurteilen. Alpay Alvaz Paco gibt den Hannibal lauernd und sprungbereit; selbst das unter einer Piratenklappe verborgene Auge scheint alles zu sehen. Wie eine Naturgewalt steht der 34-Jährige auf dem Dach des Alpengerüsts; das diplomatische Geplänkel mit dem römischen Diktator kann jederzeit zum Donner werden. Kaum zu glauben, dass der gebürtige Berliner nie zuvor Theater gespielt hat.

In nur sieben Probenwochen haben die Männer aus acht Ländern das sperrige Stück gestemmt. „Biografie füllt Text“ – diesen Gedanken Heiner Müllers findet Regisseur Atanassow bei den Proben bestätigt: „Technik lässt sich erlernen, Lebenserfahrung nicht.“ Auch deshalb macht ihm die Arbeit mit den Häftlingen solchen Spaß. Mit schwarzem Basecap, grüner Jacke und Berliner Dialekt gibt sich der gebürtige Dresdner alle Mühe, aufzutreten wie seine „Jungs“. Die danken es ihm mit Respekt. Acht Stücke hat der 41-Jährige mit dem Theater-Projekt „aufBruch“ seit 2002 in der JVA Tegel inszeniert, zuletzt den Spartakus. Hinter den Mauern des Vollzugs findet Atanassow seine künstlerische Freiheit, die Häftlinge einen Ausbruch auf Zeit.

Bei einer Probe am Montag zuckt hier und da ein Darsteller vor seinem Monolog zusammen und vergewissert sich mit einem schnellen Blick der Solidarität seiner Mitspieler. „Theaterspielen gilt bei vielen Knackis als schwul“, erklärt Volker Ullmann im Karthagerkostüm. In der Gruppe sind sie sicherer: „Für Freiheit, gegen Willkür“, tönt es vom goldenen Podest der Römer. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ schallt als Echo vom Alpengerüst der Karthager zurück. Der Kampf der Ideologien ist nicht mehr aufzuhalten, denn „für alle reicht es nicht“. Die sozialistische Utopie Karthagos zerschellt in der Kakophonie des Krieges: Metall trifft auf Metall, Stiefel auf Gittergerüste, Befehle auf Gehorsam. Unter Choralgesang ziehen sich die Römer die weiße Toga über den Kopf und marschieren als Ku-Klux-Klan mit erhobenen Kreuzen gegen die archaischen Belagerer.

In Brecht’scher Tradition legen die Darsteller am Ende ihre Rolle ab wie ein Fußballspieler sein Trikot. Da stehen sie in Unterhemden, Paco, Ullmann und die anderen, Waschbrettbäuche neben schlohweißem Haar, und rufen dem Publikum zu: „Deine Maske ist mein Gesicht.“ Hinter dem Sicherheitszaun, im Blick der Überwachungskameras zeigt Atanassow Theater im Theater: Denn nichts anderes ist jedes Gefängnis, inszeniert es doch permanent den Unterschied zwischen „uns hier draußen“ und „denen da drinnen“. Regisseur Atanassow klingt wie Foucault in seinem Werk „Überwachen und Strafen“ (1975), wenn er über seine Berufung spricht: „Mich reizt es, diese Grenzen durchlässig zu machen und die Gesellschaft an die ‚anderen Orte‘ zurückzuholen.“ Doch ganz durchlässig werden die Grenzen nie: Schon die Premierenfeier musste das Publikum gestern ohne die Darsteller feiern. Denn wie jeden Abend schlossen sich die Zellentüren hinter ihnen um Punkt 22 Uhr.

■ Weitere Vorstellungen 17., 19., 24., 26. Juni sowie 1. und 3. Juli jeweils von 18 bis 19.30 Uhr. Letzter Einlass um 17.30 Uhr! Karten nur im Vorverkauf und mit persönlicher Anmeldung mindestens fünf Tage im Voraus. Tel. 0 30-24 06 57 77 (12 bis 18 Uhr)