: Chronistin gegen die Unwissenheit
POSTKARTE AUS BIRKENAU Erst 2008, fast siebzig Jahre nachdem die Pariser Jüdin Hélène Berr ihre Eintragungen verfasste, wurde ihr Tagebuch in Frankreich veröffentlicht. Jetzt ist es in deutscher Übersetzung erschienen
VON DOROTHEA HAHN
„Ich könnte tanzen, laufen, springen. Ich weiß nicht, wie ich meine Freude im Zaum halten soll“, beginnt Hélène Berr ihren Tagebucheintrag am 6. Dezember 1943. Seit Monaten zieht sich die Schlinge um den Hals der jungen Pariserin enger. Verwandte und NachbarInnen sind abgeholt worden. Ihr Vater hat Berufsverbot. Sie muss „das Abzeichen“ tragen, hat nur noch Zugang zum letzten Waggon der Métro und darf die Champs-Élysées nicht mehr überqueren. Aber an diesem Tag ist all das zweitrangig. Es ist Post gekommen: Françoise, die vor Monaten deportierte Freundin, hat eine Karte geschickt. Ein Lebenszeichen aus Birkenau.
Für Hélène Berr ist die Karte ein Glücksmoment. Einer der letzten. Wenige Monate später bricht ihr Tagebuch brüsk ab. Am 7. März 1944 gibt sie noch den Bericht eines heimgekehrten französischen Kriegsgefangenen wieder. Der hat auf einem Gehöft bei Hamburg gesehen, wie ein Bauer jüdische Frauen aus Wien, „darunter sehr vornehme“, mit Peitschenhieben weckt und auf die Felder treibt. Dieser letzte Eintrag endet mit drei Worten und drei Ausrufungszeichen: „Horror! Horror! Horror!“
Der 23. Geburtstag
Am Morgen danach holt die Polizei die Familie Berr in ihrer Wohnung im siebten Arrondissement in Paris ab. Am Tag ihres 23. Geburtstags wird Hélène Berr deportiert. Ihre Eltern werden bei der Ankunft in Auschwitz ermordet. Die junge Frau kommt ein Jahr später in Bergen-Belsen ums Leben: Sie hat Typhus, kann nicht mehr zum Appell aufstehen und wird totgeschlagen, fünf Tage bevor die Engländer das Konzentrationslager befreien.
Das Tagebuch von Hélène Berr ist ein ergreifendes Dokument. Ein historisches und zugleich sehr persönliches Zeugnis. Es ist hautnah am Geschehen. Und dennoch ruhig und brillant geschrieben. Zwei Jahre lang hat Hélène Berr notiert, was um sie herum geschieht. Am Anfang tut sie es für ihren Geliebten. Für Jean, der weit weg in der Résistance kämpft und wissen soll, wie es ihr geht. Doch schon bald antizipiert sie ihr eigenes Ende. Denkt an die Nachwelt. Und schreibt für eine „Zeit, wenn wir alle tot sein werden“. Ihre Einträge werden immer knapper, atemloser. Worte, wie „Deportation“, „Selektion“ und „Konzentrationslager“ treten an die Stelle der Zitate aus der englischen Literatur. Hélène Berr ist jetzt Chronistin, die gegen das Unwissen und das Nichtwissenwollen der anderen anschreibt. Sie empfindet ihr Tagebuch als „Pflicht“. Und sie will, dass alle erfahren, wie hart es ist, „in diesem entsetzlichen Sturm zwanzig zu sein“. Sie schreibt: „Man darf nichts vergessen.“
Dennoch sind mehr als 64 Jahre vergangen, bevor die große Öffentlichkeit das Tagebuch zu lesen bekam. Mehr als sechs Jahrzehnte lang blieb es eine Familienangelegenheit. Wurde von Generation zu Generation weitergereicht. Erst kurz vor seinem Tod übergab der Geliebte, Jean Morawiecki, das Original einer Nichte der Toten. Die sorgte im Jahr 2008 für die Veröffentlichung in Frankreich. Anfang diesen Jahres ist das Buch auch auf Deutsch erschienen.
Die Zeit hat dem Tagebuch nichts anhaben können. Es führt direkt hinein in den brutalen Alltag jener Jahre, als sei es gestern. Zu dieser Unmittelbarkeit trägt bei, dass die Leser die Orte, die Hélène Berr beschreibt – die Universität, an der sie bis zu ihrem Ausschluss studiert, die Seinebrücken, über die sie flaniert, und die Métro-Stationen – kennen. Die Mauern, zwischen denen Hélène Berr lebte, das Licht der Stadt, die sie liebte, sind unverändert geblieben.
Hélène Berr kommt mit einem Silberlöffel im Mund zur Welt. Sie stammt aus der aufgeklärten Pariser Bourgeoisie. Das Judentum spielt bei den Berrs keine Rolle. Der Vater ist ein bekannter Chemieingenieur. Die Kinder lesen Gedichte, musizieren, gehen an erstklassige Schulen und sind mit den Sprösslingen von Richtern, Forschern und Naturwissenschaftlern befreundet. Selbst als Gewalt, Verzweiflung und Tod längst Einzug in das Leben von Hélène Berr gehalten haben, versucht die junge Frau noch, Normalität zu wahren. In ihrem Tagebuch beschreibt sie ihren Spagat, der immer größer wird: zwischen dem „fabelhaften Leben“, das sie geführt hat, und der Hölle, in die sie hineingedrängt wird. Bis zum Schluss spielt sie Geige. Geht zu Fünf-Uhr-Tees. Und liest ihre englischen Lieblingsautoren Shakespeare, Keats, Shelley. Zugleich organisiert sie Hilfslieferungen in das Internierungslager Drancy, die letzte französische Station vor Auschwitz. Und betreut kleine Kinder, deren Eltern deportiert worden sind. Wohlwissend, dass die Kleinen als nächste abgeholt werden werden.
Aber als Hélène Berr in einer Hilfsorganisation erstmals mit Zionisten in Kontakt kommt, fällt ihr zu ihnen nur das Adjektiv „engstirnig“ ein. Sie kritisiert „jede Grenzziehung, die andere ausschließt“. Und schreibt: „Wenn ich Jude schreibe, drücke ich nicht aus, was ich denke. Denn für mich gibt es eine solche Unterscheidung nicht. Ich fühle mich nicht anders.“
Eindringlich beschreibt sie auch ihr Hadern bei der Entscheidung über den gelben Stern, dessen Tragen 1942 Vorschrift wird. Hélène Berr ist frisch verliebt. Zunächst will sie „das Abzeichen“ verweigern: „Wegen der Schande und Unterwerfung unter das deutsche Gesetz“. Später will sie es tragen und dabei besonders „elegant“ und „würdevoll“ gekleidet sein. Dann entscheidet sie: „Ich will das tun, was am mutigsten ist.“ Am 8. Juni, als sie sich zum ersten Mal mit dem „Abzeichen“ auf die Straße wagt, notiert sie abends: „Mein Gott, ich habe nicht geglaubt, dass es so hart sein würde.“
Oft wechselt sie mitten in einem Absatz von einer verliebten Schwärmerei zu einem brutalen Tod über. Von einem Kunstwerk zu dem Selbstmord einer jungen Mutter, bei der die Polizei an der Türe steht, um sie abzuholen. Von einem Treffen, bei dem Hélène Berr Schumann und Bach musiziert, zu deutschen Soldaten, die mitten in Paris beim Exerzieren Schreie „wie Tiergebrüll“ ausstoßen. Als ein kleines Kind verhaftet wird, bemerkt sie mit bitterer Ironie: „Es gefährdet die Sicherheit des Reichs.“
Der Text ist fast gleichzeitig entstanden mit zwei anderen zeitgenössischen Werken von einem Mädchen und einer Frau, die wegen ihres Judentums Opfer der Nazis geworden sind: Das Tagebuch der neun Jahre jüngeren Anne Frank in Amsterdam und der Roman der 18 Jahre älteren Schriftstellerin Irène Nemirovsky („Suite française“). Doch die Perspektiven der drei sind unterschiedlich. Frank und Nemirovsky verstecken sich. Hélène Berr und ihre Familie bleiben bis zum Schluss. Sie fliehen nicht. Auch wenn die Frage permanent präsent ist.
Kein Fluchtversuch
Als der Vater 1942 zum ersten Mal verhaftet wird, bezahlt der französische Chemiekonzern Kuhlman, dessen Vizedirektor er war, das Lösegeld für seine Freilassung aus dem Durchgangslager Drancy. Zu dem Zeitpunkt werden andere Internierte bereits in plombierten Güterzügen abtransportiert. Und Hélène Berr weiß, dass am Ende der Reise der Tod wartet. Sie kennt die Berichte über „Giftgas, in das die Züge hinter der polnischen Grenze“ fahren. Und schreibt: „Solche Gerüchte müssen einen wahren Ursprung haben.“ Sie ahnt auch, dass nach der Deportation der russischen und polnischen Juden die französischen Juden an die Reihe sein werden. Sie notiert: „Jedes Mal sind bekanntere Leute dabei.“ In der Hilfsorganisation zur Betreuung von Gefangenen, wo sie mitarbeiten möchte, versucht man sie mit den Worten abzuwimmeln: „Sie haben hier nichts verloren. Gehen Sie.“ Auch Kommilitonen raten ihr immer wieder, unterzutauchen.
Hélène Berr beschreibt die vielen gut gemeinten Ratschläge in ihrem Tagebuch. Und setzt dazu, dass sie nicht weiß, was sie damit anfangen soll. Eine Flucht kommt nicht infrage. Weder für sie noch ihre Familie. „Keiner würde einen solchen Entschluss fassen“, schreibt sie. Zugleich schließt sie nicht aus, dass sie sich eines Tages den Vorwurf machen könnte, „verrückt“ gewesen zu sein. Weil sie geblieben ist.
Mit ihrem Transport in den Osten wird Hélène Berr eine von 75.721 jüdischen Menschen, die aus Frankreich deportiert werden. Nur 2.200 haben überlebt. Hélène Berr gehört nicht zu ihnen. Mit ihrem Tagebuch ist sie 64 Jahre nach der Katastrophe zurückgekehrt.
■ Hélène Berr: „Pariser Tagebuch 1942–1944“. Hanser-Verlag, München, 2009, 318 Seiten, 19,90 €