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Archiv-Artikel

Max Schmeling – Er war ein solides Stück Natur

VON WOLF WONDRATSCHEK

Picasso bin ich nie begegnet. Strawinski auch nicht. Aber endlich Schmeling. Und wie es bei der Begegnung mit einer Legende nun einmal ist, wird man erst in der Erinnerung glauben, dass sie wirklich stattgefunden hat.

Es war zehn Uhr morgens. Ein nasser, kalter, grauer Tag im August 1985. Schmeling begrüßt mich in seinem Büro in Hamburg. Mit Handschlag. Ein Händedruck, der mich durchzuckt, sehr sanft. Da ist sie, seine rechte Hand, die berühmte, die ruhmreiche Rechte. In ihrer kompaktesten Form als bandagierte Faust und in ihrer wirksamsten Anwendung, nämlich gerade geschlagen und kurz angesetzt, hat sie vor einem halben Jahrhundert, am 19. Juni 1936, an der Kinnspitze von Joe Lewis ihr Wunder vollbracht.

Buchstäblich mit einem Schlag wurde er zum Star. Aber natürlich lag in diesem Schlag alle Erfahrung, alle Entbehrung, jeder gelaufene Trainingskilometer, die radikale Ruhe eines selbstsicheren, zum Absoluten entschlossenen Athleten – und ein Fass voller Schweiß. Dieser Schlag war die Summe seiner bisherigen Karriere, ausgeführt in perfekter Vollendung, mit dem sicheren Instinkt für Millimeterarbeit, die nur dann zu etwas gut ist, wenn sie sich mit der geballten Wucht aller Körperkräfte vereinigt. Das alles dauerte nur eine einzige Sekunde, aber nach dieser Sekunde begann für Schmeling eine andere Zeitrechnung, die Zeitrechnung der Unsterblichkeit.

Ich war noch nicht geboren, noch lange nicht; nicht einmal meine Eltern waren einander schon begegnet, als das junge schwarze Genie Joe Louis in der 12. Runde einsehen musste, dass Genie nicht alles ist. Getroffen von Schmelings rechter Hand – die ich eben noch ehrfurchtsvoll, wie eine Reliquie fast, umklammert hielt –, knickt er weg und wird ausgezählt. Die schwarzen Mitbrüder, die Ärmsten unter den Armen, haben auf ihren Gott gesetzt, alles gewettet – und verloren. Und nicht nur Geld, sondern ihre Hoffnung. Harlem schweigt. Die Musik ist vorbei. Irgendwo in den Zimmern der teuersten Hotels von New York werfen Manager ihre Zigarren ins Badewasser und ihre Blondinen wieder auf die Straße. Nein, der Weltkrieg ist noch nicht ausgebrochen. Und der Kampf gegen Joe Louis war auch kein Kampf um die Weltmeisterschaft. Aber neben der Bitterkeit einer nationalen Niederlage würgte sie in diesem Jahr 1936 eine tiefer sitzende, quälendere Angst: die vor dem rücksichts- und mitleidlosen Regime des Nationalsozialimus.

Dabei haben wir es hier, um wieder auf den Teppich zu kommen, nicht mit der arischen Rasse zu tun, sondern mit der einsamen Klasse eines deutschen Schwergewichtsboxers.

Obwohl ich mit Schmeling an diesem frühen Morgen zum Interview verabredet bin, war ich schon in den Tagen zuvor einfach nicht in der Lage gewesen, mir auch nur ein paar neue, vernünftige, vielleicht sogar überraschende Fragen zu notieren. Zwei Generationen vor mir haben alle Fragen längst gestellt, und die Antworten füllen inzwischen Bände von Leitz-Ordnern.

„Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?“

„Keine Cola.“

Schmeling nimmt diese Anspielung gelassen und bestellt sich selbst eine. Immerhin sitzen wir hier in einem Coca-Cola-Hauptquartier – und Schmeling ist der Boss. Aber so früh verträgt mein Magen keine Cola: Ich vertrage kaum, dass ein anderer eine trinkt. Aber Respekt: Der Mann ist doppelt so alt und haut sich morgens um zehn eine Cola rein. Aber ist es die Lust auf Durst oder die selbstverständliche Solidarität eines Geschäftsmannes mit dem Produkt, das er herstellen lässt?

„Was, um Himmels willen, wollen Sie denn noch wissen?“, fragt Schmeling mit gespielter Ratlosigkeit. Und mit Blick auf das dicke Buch seiner Erinnerungen, das ich bei mir habe: „Da steht doch wirklich alles drin.“

Stimmt. Da steht alles. Ich bin unzufrieden. Aber dann beginnt er einfach draufloszuerzählen: gute, alte Geschichten aus der guten alten Zeit. Es ist, als kenne er seine Memoiren auswendig. ich habe dabei Gelegenheit, Schmelings körperliche und geistige Verfassung zu bewundern. Selbst im achtbar hohen Alter von achtzig Jahren ist er beeindruckend da. Ein solides Stück Natur wie eh und je. Und noch immer sieht er imponierend gut aus. Er hat eine tiefe, wohlklingende Stimme, leichte, elegante Bewegungen und jenes Lächeln, von dem man nicht weiß, ob es von einer noch immer jugendlichen Schüchternheit herrührt oder von jener Art unbewussten Selbstvertrauens, wie es Ausnahmeathleten seines Kalibers eben haben müssen.

Er ist auf eine entwaffnende Weise höflich. Und er ist bescheiden, ein wahrer Buddha an Bescheidenheit. So lerne ich ihn kennen, wie ihn alle kennen, menschlicher als der beste aller Menschen … Aber, frage ich mich, wie interessant kann ein liebenswürdiger Mensch sein? Was für eine Story ergibt so ein prachtvoll glücklicher Mensch? Ich habe mit glücklichen Menschen so meine Schwierigkeiten – und hätte sie auch mit Schmeling, wenn ich ihn nicht einzig und allein für jene Eigenschaften bewundern könnte, die man sich nur im Kampf abverlangt, im Fegefeuer der Fäuste, im Boxring also. Dass Schmeling das unantastbare Idol ist, interessiert mich nicht.

Der Ruhm hat Schmeling verewigt, der Nachruhm aber überzuckert. Ich will durch den Zucker zurück zu Schmeling, dem Boxer.

Was haben die Journalisten nicht schon alles über ihn geschrieben. Was keinem seiner Gegner im Ring gelang, schafften sie. Sie hackten ihn klein, in kleine, gut verzehrbare Stücke – für den deutschen Hausgebrauch. Sie haben ihn in Serie gehen lassen als „Maxe, unser bestes Stück“, haben ihn ausgeschlachtet als Volksheld, haben sein (in der Tat märchenhaftes) Lebens- und Liebesglück als Schnulze zubereitet und serviert, als ließe sich die Wahrheit über Schmeling auf die Formel eines alten Ufa-Schlagers bringen: „Mit dem Glück auf Du und Du.“

Kaum waren die Ringstrahler über der Boxarena erloschen, überstrahlten immer neue Regenbogen diesen Mann. Mittelmäßige Lohnschreiber haben ihn zum Musterknaben der Nation popularisiert, als sei seiner Popularität noch irgendein Süßstoff beizumengen. Und so wurde er schließlich das Heiligenbild einer Bevölkerung, für die es allerdings eine arge Belastung darstellen würde, müsste sie mal einen richtigen Boxkampf aus der Nähe miterleben. Er wurde zum Inbegriff des tüchtigen, redlichen, grundanständigen Deutschen, als würde Schmeling nie etwas anderes von sich gegeben haben als eben rührende Allerweltsweisheiten. Ja, als sei er nie ein Boxer gewesen.

Dass er seinen Sport als „die ehrlichste Auseinandersetzung, die ich kenne“, bezeichnet hat und das auch in unserem Gespräch wiederholt, überhören sie – davon wollen Sonntagsprediger nichts hören. Und so ist Schmeling, solange ich, der Nachgeborene, zurückdenken kann, der in Trauerzeiten ausgestellte Luxusgegenstand geblieben – aber wer trauert in diesem Land eigentlich um seinen Boxsport? Sie erinnern sich an ihn mit der gleichen, alle Zukunft missbilligenden Sentimentalität, wie sich alte Menschen an schwere Zeiten erinnern, an die wirren und verwirrenden, die verrückten und verruchten Zeiten der Zwanziger- und Dreißigerjahre.

Es ist wahr, die Zeit reduziert eine Persönlichkeit auf ihre Essenz, und bekanntlich wird eine Essenz um so luftdichter verpackt, je kostbarer sie ist.

Da habe ich die Amerikaner ihre Hochachtung für Schmeling anders, fachkundiger und sehr viel realistischer ausdrücken hören. Und damit meine ich nicht nur jenen leichteren, aufmerksameren Tonfall, der in ihren Stimmen mitklingt, wenn sie vom Boxsport und ihren Helden reden, sondern einfach ihr fundamentales Verständnis dafür, was ein Boxkampf ist. Und dass man diesen Blues tanzen muss, ob man will oder nicht. Und Schmeling – hat er ihn nicht lange und gut getanzt? Er ist – um es in ihrem Jargon zu sagen – „real life“.

Amerika ist noch immer das Land, wo ein Schwergewichtsweltmeister „der große Zeh Gottes“ ist, wie Norman Mailer schrieb. Und schon deshalb verstehen die Leute dort, auch der kleinste Mann am Tresen seiner Whiskeykneipe, etwas von der peitschenden Paranoia eines erbitterten Fünfzehn-Runden-Kampfes. Bei der bloßen Erwähnung des Namens Schmeling sind sich Taxifahrer, Barkeeper und der Geschäftsmann in Manhattan einig: What a right hand! Ihre Augen leuchten auf. In Erinnerung und anerkennender Begeisterung schaukeln ihre Köpfe von oben nach unten, von rechts nach links. Außerdem, sagen sie dann, hat er eine Filmschauspielerin geheiratet. Und sie sagen es, als redeten sie von Gottes Goldplombe. He was smart. Smart war er.

Das ist nun genau jene Art von Kompliment, die in Deutschland als Unhöflichkeit gilt. Hier lebt er fort als das Lieblingskind jener konservativen Kreise, die ihn als Vorbild verehren für gerade jene Tugenden, die immer schon zu nichts weiter als zu grässlichen Missverständnissen geführt haben.

Eine Rolle, an der er nicht ganz schuldlos ist, die ihm aber, wenn ich mich in diesen zwei kurzen Stunden mit ihm nicht völlig getäuscht habe, nicht gefallen kann. Er wird nach Maßstäben gemessen, die moralischer Natur sind. Ich verehre ihn, wie es seine Fans drüben (und in der restlichen weiten Welt) tun, als einen der fünf besten Schwergewichtsboxer aller Zeiten. Die kurz angesetzte und gerade geschlagene Rechte hat die Sterne vom Himmel gerissen. Das war’s. Und so soll es bleiben.

„Unwiederbringliche Zeiten“, sagt Schmeling. Also begraben wir den Hund. Und gehen dabei vielleicht selbst bald vor die Hunde. Um einen Boris Becker des Boxsports zu bekommen, brauchen wir wieder schwere Zeiten, Hunger, Entbehrungen, einen Krieg – einen Weltkrieg gar.

Für seine Fans war Schmeling ein alt gewordener Boxer, reich und glücklich. Um ihn keine Tragödie wie um den armen, kranken, bankrotten Joe Louis. Keine Drogen wie bei Liston. Kein Ende im Suff wie bei Turpin. Keine Schiebereien wie bei Braddock, der seinen Titel für zehn Prozent (und zehn Jahre) an Mike Jacobs, den Manager von Joe Louis, verkaufte – und deshalb damals nicht gegen Schmeling antrat, um seinen Titel zu verteidigen, wie es doch vertraglich bereits fixiert war.

So trat er zwei Jahre später, 1938, zum Rückkampf gegen Joe Louis an, der inzwischen Weltmeister (gegen Braddock) geworden war. Die Zuschauer hatten es sich auf ihren Plätzen noch nicht richtig bequem gemacht, da lag Schmeling schon flach. Und seine Ecke warf das Handtuch. Laut einer Meldung der New York Times vom 17. Juni 1985 wird dieses Handtuch im Nationalmuseum der amerikanischen Geschichte als Kultgegenstand ausgestellt.

Boxen, der einstige Nationalsport, hat in Deutschland die Grenze der Zumutbarkeit überschritten. Über ihn scheint das Todesurteil gesprochen. Die Leute hier haben sich von ihm selbstherrlich und angewidert abgewandelt, murmeln immer etwas von Schiebung, Blut und Unterwelt. Die Boxer meiner Generation sind ihnen nicht nur wesensfremd, sondern verdächtig allesamt als Mitglieder des so genannten Milieus – Schwarzgeld, Huren, Alkohol. Moralisch sind sie, natürlich, nicht annähernd so stichhaltig wie Max Schmeling. Und sie werden nicht nach ihren boxerischen Begabungen eingeschätzt, sondern abgeurteilt von den Aposteln des Anstands.

Die im Dunkeln sieht man nicht? Und ob! Sie besetzen heute, falls es zu einem Kampfabend kommt, die Logen und ersten Reihen. Und sie schauen sich mit Gelassenheit auch Boxkämpfe schlechterer Qualität an, weil noch der schlechteste Kampf doch auch seine Geschichten erzählt, brutal, ungeschminkt, ohne Erbarmen: Geschichten von Glücklosigkeit, von Erniedrigung und unvollendetem Talent. Es sind vergessene Geschichten, die doch jeden Tag neu beginnen – mag unsere Gesellschaft, die Schmeling feiert, darauf auch mit erbarmungsloser Selbstgerechtigkeit reagieren.

Der Mensch, es stimmt schon, verträgt nicht allzu viel Realität. Und auch Schmeling zuckt bei der Vorstellung zusammen, dass der Weltmeisterschaftsgürtel von Eckhard Dagge, dem ersten deutschen Box-Champion nach Schmeling, heute in einer Kneipe auf der Reeperbahn hängt.

Es gibt einige Männer, darunter ehemalige Berufsboxer, mit denen ich gern zusammensitze. Sie teilen mein Vergnügen, das ich immer empfinde, wenn Ereignisse in totalen Katastrophen enden. Wenn das Leben Ecken und Kanten hat und wenn diese Ecken dunkel sind und die Kanten blutverkrustet, folgt Schmeling den Schritten eines Engels, ohne Eitelkeit, in unschuldiger Unwissenheit. Werft ihn in eine Schlangengrube – ich glaube, er könnte fliegen.

Hinweis: WOLF WONDRATSCHEK, 1943 geboren, lebt in Wien als Schriftsteller und Boxliebhaber. Dem Text liegt eine Version von 1985 zugrunde und ist ein Vorabdruck aus seinem im August erscheinenden Sammelband „Im Dickicht der Fäuste. Über Boxen“, dtv, 12,50 Euro.