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Archiv-Artikel

Interventionen der Aufklärung

ERKENNTNIS UND INTERESSE 80. Geburtstag des großen Theoriearchitekten der Verständigung: Jürgen Habermas bestimmt bis heute die Maßstäbe des bundesrepublikanischen Denkens

Zugänge zu Jürgen Habermas

 Einführungen zu Leben und Werk gibt es in allen gängigen Reihen, so von Hauke Brunkhorst (Reclam), Detlef Horster (Junius), Walter Reese-Schäfer (Campus), Rolf Wiggershaus (Rowohlt) und Stefan Müller-Doohm (Suhrkamp Basisbiografie).

■ Als Einstieg eignet sich auch die Rede „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“, die Habermas 1980 aus Anlass der Verleihung des Adorno-Preises hielt. Er verteidigt die Moderne gegen ihre Kritiker und entwirft das Programm, ihre Defizite durch eine „radikalisierte Aufklärung“ wettzumachen.

■ Wichtige Bausteine seiner Diskurstheorie hat Jürgen Habermas in dem Aufsatz „Wahrheitstheorien“ von 1973 entwickelt. Viele Stichworte seiner Theorie sind, wie sonst bei kaum einem lebenden Philosophen, bis in den Alltagsgebrauch gewandert: ideale Sprechsituation, herrschaftsfreier Diskurs, begründeter Konsens, kommunikative versus instrumentelle Rationalität.

■ Wer tiefer in das Werk einsteigen will, kommt um die „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Suhrkamp) nicht herum; sie ist das Fundament seines Denkens.

VON RUDOLF WALTHER

Zum 80. Geburtstag von Ralf Dahrendorf formulierte Jürgen Habermas kürzlich eine These, die auch auf ihn selbst zutrifft: „Dahrendorf betreibt auch das akademische Geschäft als Homo politicus. Er lebt, denkt und schreibt aus der Erfahrung einer deutschen Generation, die sich dadurch definiert, dass sie zu der Epochenschwelle von 1945 nicht nicht Stellung nehmen konnte.“

Intensiv wahrgenommen hat der am 18. Juni 1929 geborene Habermas diese Epochenschwelle, als er 1950 für ein Jahr in Zürich studierte. Auch in Gummersbach war der Krieg 1945 zu Ende; aber kulturell manifestierte sich die Epochenschwelle einzig darin, dass es dort wieder einen Buchladen der Kommunistischen Partei gab. In Zürich sah Habermas zum ersten Mal eine unzerstörte Stadt mit einem Angebot an Filmen, Theatern, Museen und Bibliotheken, das den 21-Jährigen überwältigte.

Öffentlich reagierte Habermas auf die Epochenschwelle von 1945 erstmals 1953. Er war noch Doktorand und hatte eben Martin Heideggers Vorlesungen zur „Einführung in die Metaphysik“ aus dem Jahr 1935 gelesen. Heidegger veröffentlichte diese Vorlesungen unverändert und ohne jeden Kommentar, und so war 1953 noch immer von „der inneren Wahrheit und Größe“ des Nationalsozialismus die Rede, so als ob „der planmäßige Mord an Millionen Menschen“ (Habermas) nicht stattgefunden hätte. Der Artikel löste eine Debatte aus. Von konservativer Seite erlebte Habermas damals, was ihm noch oft widerfahren sollte – die Denunziation, er leiste „den Geschäften der Herren im Osten Vorschub“.

Aber er erlebte sie nicht nur von konservativer Seite. Wörtlich erhob diesen Vorwurf gegen Habermas – den Forschungsassistenten von Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung – 1957 kein Geringerer als der Doyen der Kritischen Theorie, Max Horkheimer. Horkheimer verlangte Habermas’ Entlassung. Adorno wehrte sich, hatte aber keine Chance, sich durchzusetzen. Der Sozialist Wolfgang Abendroth sprang ein und übernahm den Habilitanden, der mit Frau und Kind buchstäblich auf der Straße stand. Das Thema der Arbeit – „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ – ist sprichwörtlich geworden und aktuell geblieben wie Habermas’ Zeitdiagnose unter dem Titel „Neue Unübersichtlichkeit“ (1985). Jüngst variierte er das Thema Öffentlichkeit dahin, dass der Rechtsstaat ohne eine anspruchsvolle Presse ebenso wenig zu erhalten sei wie ohne radikale Demokratie.

Von 1961 bis 1964 lehrte Habermas in Heidelberg, ab 1964 in Frankfurt. Die Frankfurter Antrittsvorlesung über „Erkenntnis und Interesse“ (1965) und das Buch mit dem gleichem Titel legten den Status von „erkenntnisleitenden Interessen“ offen und lieferten der Studentenbewegung Argumente für ihre Wissenschaftskritik. Der Hochschullehrer Habermas begrüßte die Revolte von 1968 als Abgesang auf die Ordinarienherrlichkeit und als Beitrag zur Demokratisierung der Hochschulen. Er geriet jedoch in einen Streit mit der Protestbewegung, weil er gegen deren „Taktik der Scheinrevolution“ für „eine langfristige Strategie der massenhaften Aufklärung“ plädierte. Im verbalen Handgemenge kam es auf beiden Seiten zu Verletzungen.

In einer Gesellschaft ohne normative Instanz bietet er Kriterien und Aufklärung über Verfahren

Nach der Beerdigung des am 2. Juni 1967 erschossenen Benno Ohnesorg plädierte Rudi Dutschke für „Offensivaktionen“ und „Verweigerungsrevolution“. Darauf replizierte Habermas: „Ein Sitzstreik ist eine Demonstration mit gewaltlosen Mitteln“ und fragte sich und die Zuhörer, „warum Dutschke das nicht so nennt“. Habermas gebrauchte zur Charakterisierung des rhetorischen Radikalismus das böse Wort vom „linken Faschismus“. Das Wort vergiftete das politische Klima, aber folgenreicher war die Ignoranz, mit der viele Linke fortan Habermas’ Theorien links liegen ließen.

Diese Ignoranz war ein Bumerang und machte die undogmatische Linke jahrelang dumm – auch den Autor. Zum 100. Todestag von Karl Marx 1983 schrieb ich über „Marx heute“ einen Artikel in der Zeitschrift links, in dem Habermas gar nicht erst vorkam. Andere verstiegen sich zur Parole, bei Habermas schrumpfe „die Praxisdimension von Theorie auf reine Forschung“ (Detlev Claussen). 1985 landete die links auf politischem Boden und druckte ein Interview mit Habermas.

Zwischen 1971 und 1981 wirkte Habermas am „Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“ in Starnberg. Von 1983 bis zu seiner Emeritierung 1994 lehrte er wieder in Frankfurt. Mit seinen politischen Interventionen (Stichworte: Historikerstreit, DM-Nationalismus) prägte er die politische Kultur der Bundesrepublik.

Einen Monat nach den Anschlägen vom September 2001 reagierte Habermas in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels nicht mit enthemmten Vergeltungsfantasien, sondern erinnerte an die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion, zwischen Wissen und Glauben. Er demonstrierte, dass auch säkularisierte Gesellschaften mit Religionen zusammenleben müssen. Die Religionen sollen abrüsten, das heißt den Vorrang des Wissens, das profane moralische Minimum der Verfassung und die Duldung anderer Religionen akzeptieren, aber auch der religiös neutrale Staat muss sich gegenüber Religionen sensibilisieren. Toleranzgebote richten sich nicht nur an religiöse Minderheiten, sondern sind primär das Problem von definitionsmächtigen säkularen Mehrheiten. Habermas’ Plädoyer für „die Artikulationskraft religiöser Sprachen“, von der auch säkulare Gesellschaften profitieren können, brachte ihm ein weltweites Echo ein, aber auch hämische Kritik in der Preislage der Unterstellung, er wäre auf dem besten Weg, fromm zu werden.

Fruchtbares Denken

Habermas ist ein Theoriearchitekt, der es in seinen Büchern verstanden hat, Ergebnisse anderer Disziplinen zu integrieren und für seine grundlegenden Arbeiten zum nachmetaphysischen Denken fruchtbar zu machen. Nachmetaphysisch meint ein Denken auf der Basis eines Begriffs von Vernunft, die sich selbst und die Menschen nicht überfordert, die aber auch nicht defaitistisch wird und im Beliebigen oder Irrationalen versackt. Die Philosophie bis zu Kant hat den Vernunftbegriff überladen und ihm Fähigkeiten zugetraut, über die er nicht verfügt. Kant entmythologisierte die Vernunft zu einem dem Menschen eigenen, theoretischen, praktischen und ästhetischen Vermögen. Dieses ist gebunden an Sprache, womit Sprach- und Handlungstheorie zur Basis der Theorien werden, die Habermas von der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) bis zu „Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats“ (1992) entfaltet.

Ihre Ignoranz gegenüber Habermas machte die undogmatische Linke lange Zeit dumm

In jedem Gespräch erheben die Sprechenden implizit oder explizit vier Geltungsansprüche: Sie müssen sich gegenseitig Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit zumindest hypothetisch unterstellen. Diese kommunikative Rationalität ist kein Ideal und schon gar keine Norm, sondern ein Vernunftpotenzial, das der Sprache also solcher eingeschrieben ist. Ob eine Verständigung zustande kommt, hängt davon ab, ob soziale, politische, ökonomische Interessen und Verzerrungen diskursiv überwunden werden können oder nicht. Entscheidend ist dabei nur der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“.

Das konservative – an Carl Schmitt orientierte – Ressentiment mobilisiert gegen dieses kommunikationstheoretische Arrangement gebetsmühlenartig den Vorwurf, Habermas sei politisch naiv und/oder opportunistisch. Der Springer-Kolumnist Michael Stürmer erfand sogar die „Partei Habermas“. In einer „Tatort“-Kritik schrieb ein Füsilier der NZZ, die deutschen Kommissare scheuten „den Einsatz der Schusswaffe (…) wie der Teufel das Weihwasser“, weil sie der Pistole „die Habermas’sche Diskursethik“ vorzögen. Die FAZ beschrieb Habermas als politischen „Ordnungshüter im Kinderzimmer“ und opportunistischen Meister des „Dabeiseins beim Dagegensein“. Dem weltweiten Ansehen von Habermas haben solche Anwürfe nichts anhaben können.

Habermas’ Diskursethik diktiert den Bürgern und der Gesellschaft nicht von oben herab, was sie tun oder lassen sollen, sondern verweist kritisch-aufklärend auf Rationalitätsreserven und Rationalitätsdefizite in modernen Gesellschaften. Er will die Moderne nicht irgendwie „post“-drapiert übertrumpfen. Er setzt auf „die subversive Kraft des modernen Denkens“ für Kritik und Selbstkritik. Moderne Gesellschaften verfügen über keine normative Instanz, keinen Gott und keine allmächtige Vernunft, die über wahr/falsch oder gut/böse entscheiden könnten. Habermas bietet keine Fahrpläne und keine Fahrziele, sondern Aufklärung über Verfahren und Kriterien, mit denen rational und zugleich egalitär-demokratisch darüber entschieden werden kann, warum und wann die Reise wohin gehen soll.