das grauen auf dem dorfe oder: das spezialitätenrestaurant manila von JOACHIM SCHULZ
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„Das ist es“, flüsterte ich: „Das Grauen. Genauso hab’ ich es mir immer vorgestellt.“ Wir hatten die Umzugskisten in Alfreds neue Behausung geschafft und waren anschließend zu einem Rundgang durch die Ortschaft aufgebrochen, die seine neue Heimat sein sollte. Wir hatten drei Videotheken, zwei Fahrschulen und ein Sonnenstudio gefunden, und Theo hatte gesagt: „So viel zum hiesigen Kulturangebot.“ Wir waren staunend unter der atemberaubenden Umgehungsstraße stehen geblieben, die das Dorf wie ein Regendach auf Stelzen überspannte, und waren schließlich in dem, laut Leuchtreklame, „Philippinischen Spezialitätenrestaurant Manila“ gelandet.

„Sag später bloß nicht, wir hätten dich nicht gewarnt“, schärfte Luis Alfred ein, nachdem wir in einer Sitzgruppe Platz genommen hatten, deren Rustikalität nicht unbedingt philippinischen Charme besaß, sondern eher an eine alpenländische Bergbauernhütte erinnerte. Auch war der Restaurantchef unschwer als Einheimischer zu identifizieren. „So viel zur hiesigen Exotik!“, schnurrte denn auch Theo, ehe Luis sich nochmals an Alfred wandte. „Du hättest mit uns zusammen ein herrliches Leben als Tagedieb führen können“, sagte er, und wenn Sie das verstehen wollen, dann müssen Sie wissen, dass Alfred ein Studium der Humanmedizin zwar mit Bravour absolviert hat, im Anschluss daran jedoch pfundweise erfolglose Bewerbungen versandte und schließlich nur eine einzige offene Stelle angeboten bekam. Nämlich hier. Mitten im Grauen.

Der Spezialitätenrestaurantbesitzer brachte uns unsere Speisen. Sie rochen, als ob die darin verarbeiteten Zutaten beim Biomüllhändler eingekauft worden wären. „Jesus und Maria!“, hauchte Theo, nachdem er an seinem Meeresfrüchteragout geschnuppert hatte: „Mir scheint, du könntest in dieser Gegend viel Geld verdienen, wenn du dich auf die Behandlung von Lebensmittelvergiftungen spezialisieren würdest.“ Weil aber Alfred sich nicht der Heilung von inneren Erkrankungen, sondern der Dermatologie verschrieben hat, vermochte auch diese kluge Geschäftsidee ihn nicht aufzuheitern.

Immerhin verkaufte man an der örtlichen Tankstelle auch nach Einbruch der Dunkelheit noch Flaschenbier. „Ihr werdet mich vergessen“, seufzte Alfred, nachdem wir in seinen möblierten Schuhkarton im Personalwohnheim des Klinikums zurückgekehrt waren und uns einen ersten Schluck des regionalen Pilseners zugerüstet hatten. „Hey, er kann ja sprechen!“, rief Theo, weil dies so ziemlich die ersten Worte waren, die Alfred seit unserer Ankunft im Grauen von sich gegeben hatte, und ich sagte: „Blödsinn! Auch das Grauen kann uns nicht trennen. Wir werden immer wiederkommen und nicht eher ruhen, bis wir dich hier rausgeholt haben!“

Nun aber war es Zeit für uns, den Heimweg anzutreten. „Es ist gerade so, als ließe man einen alten Freund auf einer einsamen Insel zurück“, seufzte ich, während wir über die Landstraße fuhren. „Vielleicht hat er ja Glück, und es kommt schon in zwanzig Jahren zufällig ein Schiff vorbei, das ihn erlöst und mitnimmt“, murmelte daraufhin Luis, und dann war es natürlich Theo, der nach einer kurzen Pause fragte: „Sagt mal, Jungs, von wem, zum Teufel, redet ihr eigentlich?!“