Aufstand der Beleidigten

Edmund Stoiber macht die rot-grüne Wirtschaftspolitik für das Erstarken der NPD verantwortlich. Die SPD schäumt und reagiert taktisch geschickt – von einer politischen Antwort aber fehlt jede Spur

VON CHRISTIAN SEMLER

Taktisch geschickt hat die SPD auf die Anwürfe Stoibers vom Wochenende in Sachen Verantwortlichkeit der Sozialdemokraten für das Wachstum des Rechtsradikalismus reagiert: Appell an die Gemeinsamkeit der Demokraten, Versuch, Stoiber im Oppositionslager als isoliert darzustellen. Zur Stoiber’schen Attacke selbst ist den SPD-Führern bislang aber beschämend wenig eingefallen. Wahlweise wird das miese „Niveau“ Stoibers beklagt (Anda), von einer abscheulichen „Entgleisung“ gesprochen (Clement) oder vor dem Griff in eine „unterste Schublade“ der Polemik gewarnt, die „besser geschlossen“ bliebe (Schily). Es dominiert der beleidigte Gestus, das „Wie könnt ihr nur“. Von einer politischen Antwort keine Spur.

Woher die Mattigkeit der Sozialdemokraten? Hat Stoiber nicht selbst das Jahr 1932 herangezogen, um den Zusammenhang von Massenarbeitslosigkeit und Erfolgen der Nazi-Partei zu illustrieren? Und hat er der SPD nicht indirekt den gleichen Vorwurf gemacht, der seinerzeit gegenüber den demokratischen Parteien erhoben wurde – nämlich vor dem Massenelend versagt und damit zum Sieg der Nazis beigetragen zu haben? Hier wären von einer Partei wie der SPD, die beansprucht, ihre Geschichte noch nicht gänzlich abgetan zu haben, ein paar Takte der Richtigstellung angebracht gewesen.

Zum Beispiel, dass Ende 1932 der Arbeitslosigkeit zum Trotz der Zenit des nazistischen Erfolgs überschritten war und dass der Machtantritt Hitlers nicht einem unwiderstehlichen Druck der braunen Straße folgte, sondern einem kalten Kalkül der deutschen konservativen Machteliten. Nicht die Massenarbeitslosigkeit war also für die nazistische Machtübernahme entscheidend, sondern der Nutzen, den die rechten Machteliten politisch aus ihr zogen.

Aber der Schröder’sche Regierungsstil, ganz und gar konzentriert aufs social engeneering und auf expertokratische Konsensbildung, kappt die Ressourcen der Rückerinnerung. Sie könnten sich als hinderlich erweisen bei der Anpassung an die gebieterischen Erfordernisse des globalisierten Wettbewerbs. Ab und zu hört man ein dumpfes Grollen, so wenn der rotbewestete SPD-Abgeordnete Stiegler von der antidemokratischen Wende des katholischen Zentrums in der Weimarer Republik spricht, also der Ahnherrin der CDU. Dann herrscht wieder Schweigen.

Aber nicht in den historischen Reminiszenzen Stoibers liegt das ganze Ausmaß seiner Unverschämtheit, sondern in deren aktueller Nutzanwendung. Natürlich trifft es zu, dass sowohl unter den heutigen Opfern der Massenarbeitslosigkeit wie auch unter den Schichten, deren Beschäftigungsverhältnisse prekär sind, rechtspopulistische und fremdenfeindliche Tendenzen zunehmen. Das erweist die jüngst veröffentlichte Studie über „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, die unter der Anleitung des Soziologen Wilhelm Heitmeyer herausgegeben wurde. Wer gezwungen ist, sich in der „Zone der Entkopplung“ oder der „Zone der Prekarität“ (nach der Terminologie des französischen Soziologen Castel) aufzuhalten, wird eher dazu neigen, seinen Frust auf Minderheiten-Gruppen abzuwälzen, als die sicheren Arbeitsplatzbesitzer in der „Zone der Integration“. Bleibt aber immer noch die Frage, wer solche Frustrationen, wer die psychologischen Auswirkungen von Angst und verweigerter Anerkennung ausnutzt – wer sie politisiert. Tut das nur die NPD?

Zieht man die neuesten empirischen Befunde heran, so zeigt sich, dass Fremdenfeindlichkeit und die Linie „Deutsche zuerst“ keineswegs auf die aktuell oder potenziell deklassierten Schichten beschränkt sind, sondern auch in der „Zone der Integration“ grassieren. Es sind die rechten politischen Eliten, die hier die Avantgarde bilden. Nehmen wir als Beispiel die Behauptungen der CDU/CSU von der angeblichen Unvereinbarkeit islamischer Werte mit denen des westlich-christlichen Wertehimmels. Diese Propagandalinie sickert durch in Alltagshaltungen, wie sie die empirische Forschung festgestellt hat. So nimmt gerade unter denen, die die soziale Spaltung der Gesellschaft erleben oder die ihren eigenen Absturz befürchten, die Tendenz von Jahr zu Jahr zu, den Islam für unvereinbar mit der westlichen Kultur anzusehen. Das generelle Misstrauen gegenüber dem Islam wächst in eindrucksvollen Jahresraten. In gleicher Weise mehren sich Forderungen, bei knappen Arbeitsplätzen die ausländischen ArbeiterInnen in die Heimat zurückzuschicken. Täuschen wir uns nicht – beide Haltungen hängen zusammen. Beide potenzieren sich gegenseitig.

Stoibers und Merkels patriotische Tugendlehre ist in diesem Zusammenhang keine missglückter Reckaufschwung. Dieser Patriotismus ist nicht unschuldig. Er liefert der rechtsextremen Indoktrination den rechtfertigenden Hintergrund. Stoibers Spieß, er muss umgedreht werden!