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Archiv-Artikel

Wenn die Herrschaftskritiker tagen

Fast ohne Geld überleben: In wenigen Tagen beginnt in der mittelhessischen Provinz ein dreiwöchiger Kurs zur „Selbstorganisation“. Die Initiatoren glauben, nur wer derart unabhängig sei, könne auch politisch aktiv werden

VON JOCHEN SETZER

345 Euro Arbeitslosengeld II, dazu noch Zuschläge für Wohnung und Heizung. Über die Klagen der Montagsdemonstranten kann der 23-jährige Espi Twelve, der seinen bürgerlichen Namen lieber für sich behält, nur schmunzeln. „Zum Leben brauche ich nur 20 bis 30 Euro im Monat.“ Lebensmittel besorgt er sich kostenlos bei Supermärkten. „Die würden das sonst doch wegwerfen“, sagt der Politikaktivist aus Saasen.

Die Projektwerkstatt in Saasen, einem 1.200-Seelen-Dorf in Mittelhessen bei Gießen, lädt ab 20. Februar zu einem „Intensivkurs in Sachen Selbstorganisierung“: Drei Wochen lang werden bei den Widerstands- und Utopietagen alternative Lebensentwürfe und unkonventionelle Ideen zur Alltagsgestaltung erörtert – und gleich ausprobiert. Auf ihrer Internetseite weisen die Veranstalter darauf hin, dass Essen für den Anfang bereitgestellt wird, dann aber selbst besorgt werden müsse. Das sollen die Teilnehmer beim „Containern“, einem praktischen Teil des Treffens ab Woche zwei, unter anderem in nächtlichen Raubzügen aus den Containern der Lebensmittelmärkte beschaffen.

Dass das illegal ist, stört die Aktivisten wenig. „Außerdem ist es nur eine von vielen Möglichkeiten, sich Essen zu besorgen“, erklärt Twelve. Oft sei es möglich, weiß er aus Erfahrung, mit den Supermärkten „konkrete Deals“ zu schließen. „Die stellen uns abends einige Kisten raus.“

Fragen des täglichen Überlebens – wie bekomme ich einen vollen Magen auch ohne das nötige Kleingeld – sollen bei den Widerstands- und Utopietagen diskutiert werden. Genauso werden aber auch Probleme, vor denen ein Heimwerker stehen könnte, thematisiert: Wie renoviere ich ein Haus? „Wir wollen uns auch Fähigkeiten antrainieren, die über die Generationen verloren gingen“, sagt Twelve. Denn: Politische Arbeit und persönliche Absicherung gehören für den Herrschaftskritiker zusammen. Twelve: „An der Trennung kranken viele Politbewegungen, da sie nicht wirklich unabhängig agieren können.“ Die Beschaffung von Geld nach marktkonformen Gesetzen beschneide deren Unabhängigkeit.

Nach zwei Wochen unter sich, meist innerhalb des Anwesens von 600 qm, wollen die Herrschaftskritiker in Woche drei ihrer Tagung auch die Gießener Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen: den Aktivisten schwebt dabei eine eigene Zeitung vor oder auch das Verteilen von Gratisessen in der Innenstadt. „Es würde mich freuen, wenn wir nicht nur unter uns über Herrschaftsfreiheit diskutieren, sondern die Debatte auch in die Stadt tragen könnten“, erklärt Twelve . Der 10. März würde den Projektwerkstättlern gut als Termin für ein bisschen Wirbel passen: Dann beginnt der Berufungsprozess gegen zwei ihrer Aktivisten vor dem Landgericht Gießen. Die wurden Ende 2003 zu neun Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt – und gingen in Berufung. Ihnen wird vorgeworfen, Plakate sämtlicher Parteien verändert zu haben. Auch soll einer von ihnen auf einer CDU-Wahlveranstaltung einen Polizisten, der sie von ihrem Platz vertreiben wollte, geschlagen haben. Espi Twelve ist einer der beiden Angeklagten. Er hält die Jusitz für unfähig, mit „kreativem Widerstand“ umzugehen.

Die Projektwerkstatt Saasen wurde vor rund 12 Jahren – im Frühjahr 1993 – als politisches Zentrum gegründet. Seitdem steht das Haus mit angebauter Scheune im Zeichen der Herrschaftskritik und soll Aktivisten und Gruppen vor allem als Plattform dienen. Auf dem Anwesen wohnen momentan fünf Menschen in einer „Polit-WG“. Den Begriff „Kommune“ mag Twelve nicht. „Dafür sind wir zu klein und zu chaotisch – außerdem agieren wir nicht als Kollektiv.“ Und was für Menschen leben hier? Grundsätzlich könne jeder einziehen. „Ob es funktioniere, regelt sich über den sozialen Prozess“, so Twelve. Mit jemandem zusammenzuwohnen, der einer regelmäßigen Arbeit nachgeht, kann er sich nicht vorstellen. „Das würde uns entfremden.“

Und wie steht man in der Gemeindeverwaltung zu den Ideen der Herrschaftskritiker? „Nicht so gut“, bekundet eine Frau aus der Telefonzentrale. Genaueres will sie jedoch nicht sagen. Twelve glaubt auch nicht, dass die Gemeinde irgendetwas gegen ihre Tagung unternehmen wird. Dass jedoch das ein oder andere Polizeiauto mehr vor ihrem Anwesen patrouillieren wird, „davon gehe ich schon aus“.

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