: Liebe im Abteil
Von Weltverbesserern und scheiternden Existenzen: Die „Perspektive Deutsches Kino“ versammelt Erstlingsfilme aus deutschen Filmhochschulen
VON DIETMAR KAMMERER
Was ist schlimmer als von dort, wo man festsitzt, unbedingt fort zu wollen und es nicht zu können? Wenn alle sonst finden, es sei ein prima Ort, um Urlaub zu machen. Ausgerechnet in dem von Touristen überlaufenen Badeort auf der Ostseeinsel Usedom und ausgerechnet kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag kriegt Malte (Jakob Maschentz) seine Lektion aufs Brot geschmiert: „Das Leben ist kein Picknick“.
Wie wahr: Die anderen fahren protzige Sportwagen, feiern nächtelang am Strand und schleppen in Diskotheken Mädchen nach der „polnischen Methode“ ab, bloß Malte darf tagsüber Aale in der Imbissbude räuchern und schleppt nachts höchstens den sturzbesoffenen Vater nach Hause. In „Das Lächeln der Tiefseefische“ erzählt Regisseur Till Endemann eine Coming-of-Age-Geschichte vom Fernweh als Heimweh, von der Sehnsucht, fortzugehen, um bei sich anzukommen. Jakob Murschetz spielt den Heranwachsenden eindrucksvoll als zornigen Sturkopf, der vor allem sich selbst überwinden muss, um zu erkennen, dass er es selbst in der Hand hat, seinen Weg zu finden.
Die Erstlingsfilme aus deutschen Filmhochschulen, die die „Perspektive Deutsches Kino“ in ihrer mittlerweile vierten Ausgabe versammelt, haben die großen Themen im Kopf und die Details im Blick. Auf der Schwelle zwischen jugendlichem Leichtsinn und dem Ernst des Erwachsenwerdens balancieren die vier Protagonisten von Bettina Brauns Dokumentarfilm „Was lebst du?“. Über zweieinhalb Jahre hat die Filmemacherin die vier muslimischen Freunde Ali, Kais, Ertan und Alban begleitet, befragt und von sich erzählen lassen: eine Ausdauer, die sich gelohnt hat, denn selten sonst wird man einen ähnlich differenzierten und vielschichtigen Einblick gewährt bekommen in die Lebensentwürfe und Ansichten von Jugendlichen, die von den Medien normalerweise unter den Rubriken „Parallelgesellschaft“ und „Problemgruppe“ entlang fest eingeschliffener Routinen abgehandelt werden.
Hier reden vier junge Männer freimütig über ihre Träume, Hoffnungen und Befürchtungen, für die die Konfrontation von traditionellem Elternhaus mit westlichem Lebensstil eine ebenso schwere Herausforderung darstellt wie die Aussicht, bald auf eigenen Füßen stehen zu müssen. Dass sie es trotz allem mit Selbstbewusstsein und einer gehörigen Portion Humor tun, macht den Film zu einem der sehenswertesten des Programms.
Man wundert sich, warum die Programmverantwortlichen ihre Reihe nicht mit diesem Film eröffnen, sondern mit dem ärgerlichen „Dancing With Myself“ (Regie: Judith Keil und Antje Kruska). Drei dokumentarische Porträts von Lebensentwürfen am prekären Rand der Gesellschaft lassen den Zuschauer vor allem eines erfahren: Das Tanzbein zu schwingen und Leben ist zweierlei. Zu so etwas wie respektvoller Nähe zu seinen Figuren findet der Film an keiner Stelle; stattdessen wirken sie wie eingesetzt für eine größere erzählerische Absicht, die sich letztlich in Belanglosigkeiten erschöpft. Exaltiertes Tanzverhalten, ob in Berliner Szeneclubs, in Prolobars oder im Salsa-Schuppen, ist eben eine zu dünne Grundlage für einen Film. Nicht einmal der angenehme Soundtrack mit Elektro-Mucke vermag darüber hinwegzutrösten.
Wenn schon scheiternde Existenzen, dann lieber gleich als ganz großes Theater, als Melodram um Liebe, Lust, Verzweiflung und Tod. „Ein Liebesfilm für alle, die keine Liebesfilme mögen“, nennt Filmemacher Florian Schwarz seinen Beitrag „Katze im Sack“. Darin gehen Christoph Bach, Jule Böwe und Walter Kreye eine nihilistische ménage à trois im nächtlichen Leipzig ein, schließen Wetten übers Verlieben ab, singen falsch und inbrünstig in Karaokebars und lassen sich beim Sex filmen. Ein dunkles Stück Kino, ein Kammerspiel als Film noir, das mit einer zufälligen Begegnung im Zug beginnt und endet. Zuneigung ist nur auf Distanz möglich, lautet die Botschaft, aber vielleicht ist der Abstand von Sitz zu Sitz im Zugabteil genau der richtige.
Während Walter Kreye in „Katze im Sack“ den Sicherheits- und Überwachungstechniker als alternden Voyeur gibt, spielt Milan Peschel in Robert Thalheims „Netto“ den selbst ernannten Security-Experten als nimmermüdes Großmaul. Im Personenschutz liege die goldene Zukunft, so kaut der dauerarbeitslose Ostberliner und Imbissbudenabhänger Marcel immer wieder allen, die nicht rechtzeitig die Flucht ergreifen, das Ohr ab. Wenn er sein eigenes Leben schon nicht auf die Reihe kriegt, muss er seine Kontrollparanoia wenigstens an anderen ausleben dürfen. Volksbühnen-Schauspieler Milan Peschel und Sebastian Butz als sein Sohn sind dabei das sicherlich wunderbarste und sympathischste Vater-Sohn-Gespann der Berlinale. Die anrührende, tragikomische und mit sicherer Hand erzählte Geschichte hat zu Recht in Saarbrücken den Förderpreis Langfilm gewonnen. Dass sie einen Boom für ostdeutsche Country-Musik auslösen wird, steht zu vermuten.
Im vergangenen Jahr war „Muxmäuschenstill“ der Überraschungserfolg der „Perspektive Deutsches Kino“. Ähnlich klingt der Titel des Films „Weltverbesserungsmaßnahmen“ von Jörn Hintzer und Jakob Hüfner, und auch für ihr Drehbuch sind Hartz IV, Ich-AG und gesteigerte Sicherheitsbedürfnisse offensichtlich Pate gestanden. Sieben Episoden über fiktive Initiativen, die unser Land schöner, gerechter und bunter machen sollen: zum Beispiel durch Plateauschuhe, die alle auf Augenhöhe bringen. Das ist unterhaltsam vor allem an den Punkten, an denen die Schere zwischen Verbesserungs-Wille und -Wahnsinn unübersehbar wird. Auch wenn die Wiederholungen etwas strapazieren, bleibt der Film ein guter böser Kommentar zur „Ruck“-Rhetorik der Tagespolitik.
Perspektive Deutsches Kino läuft im CinemaxX 1 + 3 und im Colosseum Kino 1