: Verdienste um heikle Stoffe
Heute beginnen die Filmfestspiele in Berlin: Im Programm haben sich die Verwerfungen der Gegenwart und Vergangenheit einen festen Platz gesichert – schließlich ist Berlinale-Chef Dieter Kosslick ein erklärter Freund des engagierten Kinos
VON CRISTINA NORD
Erfunden hat Hany Abu-Assad es nicht, wohl aber geholfen, es voranzubringen: das Road Block Movie. Der Filmemacher aus Palästina hat in seinem Spielfilm „Rana’s Wedding“ (2002) das Terrain zwischen Ostjerusalem und dem Westjordanland kinematografisch erschlossen – als ein Gelände voller Barrieren, die Bewegung weniger unterbinden, als dass sie ein nervöses Kreisen auf der Stelle hervorrufen. Eine junge Palästinenserin aus Ostjerusalem (Clara Khoury) muss sich in „Rana’s Wedding“ entscheiden: Entweder sie geht mit dem Vater nach Ägypten, um zu studieren, oder sie bleibt, um ihren Verlobten aus Ramallah zu heiraten. Wenig spricht dafür, dass sich die junge Frau gegen die väterliche Autorität, die Grenzsoldaten und die Bürokraten durchsetzen könnte. Aber am Ende bekommt sie, was sie will.
Hany Abu-Assad macht engagiertes Kino – wenn auch nicht in der Art, dass sich die Botschaft in den Vordergrund drängte und das Filmische dahinter zurückträte. Seine jüngste Arbeit, „Paradise Now“, kreist um Khaled und Said, zwei junge Männer aus dem Gaza-Streifen. Sie sind dazu bestimmt worden, sich als Selbstmordattentäter in Tel Aviv in die Luft zu sprengen. Eine letzte Nacht verbringen sie bei ihren Familien. Doch am nächsten Tag laufen die Dinge nicht so, wie sie es geplant haben.
„Paradise Now“ gehört zu den 22 Filmen, die Dieter Kosslick und sein Team für den Wettbewerb der diesjährigen Berlinale ausgewählt haben. Als er Anfang Februar das Programm vorstellte, sagte Kosslick: „Es geht um Fußball, Sex und Politik.“ „Paradise Now“ fällt unter die dritte Rubrik – und steht damit nicht allein. Im außer Konkurrenz gezeigten Spielfilm „Hotel Rwanda“ (Regie: Terry George) etwa geht es um einen Hotelmanager in Kigali, dem es im Frühjahr 1994, während des Völkermords an den Tutsi, gelingt, mehrere hundert Menschen zu retten. Raoul Peck arbeitet in „Sometimes in April“ vor demselben Hintergrund, dem vom Völkermord erschütterten Ruanda. Er rückt zwei Hutu-Brüder in den Mittelpunkt. Einer befeuert als Radiosprecher die Massaker an den Tutsi, während der andere sich zu entziehen sucht.
Der Eröffnungsfilm, Régis Wargniers „Man to Man“, erzählt von einem kruden wissenschaftlichen Experiment: Schottische Anthropologen entführen 1870 in Südafrika zwei Pygmäen, um sie als das missing link zwischen Affen und Menschen zu studieren; den Rassismus und die Voreingenommenheiten, die den nur scheinbar objektiven Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert eigneten, arbeitet „Man to Man“ klar heraus. Im deutschen Wettbewerbsbeitrag „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ folgt der Regisseur Marc Rothemund der von Julia Jentsch verkörperten Sophie Scholl ins Verhörzimmer, in den Gerichtssaal und schließlich unters Fallbeil. Nachdem das Programmheft der Berlinale längst schon ausgeliefert worden war, wurde gestern überraschend ein weiterer Film in den Wettbewerb aufgenommen: „Fateless“, das Regiedebüt des ungarischen Kameramanns Lájos Koltai. Die literarische Vorlage für die ungarisch-deutsch-britische Koproduktion bildet Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“. Darin wird der Holocaust aus der Sicht des heranwachsenden jüdischen Icherzählers geschildert; das Drehbuch stammt von Kertész selbst.
So ausgelassen sich Dieter Kosslick also gern zu präsentieren pflegt, was die Filmsujets angeht, so haben sich die Verwerfungen der Gegenwart und die der Vergangenheit einen festen Platz gesichert. Und das gilt nicht nur für den Wettbewerb, sondern auch für die übrigen Sektionen. Im Panorama etwa gibt es eine Dokumentation über Kindersoldaten in Uganda („Lost Children“ von Ali Samadi Ahadi und Oliver Stoltz) und eine andere über den Krieg in Tschetschenien („Weiße Raben – Alptraum Tschetschenien“ von Tamara Trampe und Johann Feindt), im Forum einen Dokumentarfilm über die Nachwirkungen des nicaraguanischen Bürgerkriegs („El Inmortal“ von Mercedes Moncada Rodríguez), und selbst das Kinderfilmfestival neigt in der Reihe 14 + zur Härte: In dem mexikanischen Spielfilm „Voces inocentes“ („Unschuldige Stimmen“) von Luis Mandoki etwa geht es um Kinder, die im Bürgerkrieg von El Salvador von den Regierungstruppen zwangsrekrutiert wurden; in Bahman Ghobadis „Turtles Can Fly“ um junge Kurden im Norden des Irak, kurz bevor der Irakkrieg im Frühjahr 2003 ausbrach. Beide Filme sparen nicht mit drastischen Bildern und Szenen; beiden Filmen ist es darum zu tun, die Wucht der Ereignisse ungeschwächt auf die Leinwand zu übertragen.
Neu ist das nicht. Ein Faible für den engagierten Film kennzeichnet die Berlinale, es hilft ihr, sich gegenüber Cannes und Venedig zu profilieren. Das französische Festival mag sich in den letzten Jahren damit brüsten, den jeweils neuen Film von Michael Moore zu zeigen und dann auch brav auszuzeichnen. Das Verdienst jedoch, regelmäßig politische, bisweilen auch heikle Stoffe in den Vordergrund zu heben, gebührt der Berlinale. Den cinephilen Leidenschaften freilich kommt diese Ausrichtung nur bedingt entgegen. Cannes lud zuletzt den thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul, Venedig die französische Regisseurin Claire Denis ins Wettbewerbsprogramm, mithin Filmemacher, die erforschen, wozu das Medium Film in der Lage ist. Denis und Weerasethakul treiben ihre Filme dahin, wo sich eine Art Kino-Epiphanie erleben lässt: Man bekommt etwas zu sehen, was man noch nie auf einer Leinwand geschaut hat. Im Wettbewerbsprogramm der Berlinale wird man nach solchen glücklichen Augenblicken vermutlich suchen müssen – oder sich besser gleich im Programm des Forums umschauen.
In einer Sondervorführung läuft dort „The Mad Fox“ von Uchida Tomu, ein Film aus dem Jahre 1962. In Japan ist Uchida Tomu ein Klassiker, in Europa kaum bekannt. Dabei ist „The Mad Fox“ ein großartiges Filmerlebnis, insofern der Regisseur die Bewegungen, die Gesänge und die Bühnentechniken des Kabuki-Theaters für das Kino übersetzt. Die Illusionstricks der Bühne – Masken, Kulissen aus Pappmaché, gemalte Prospekte – kommen zum Einsatz und zeitigen einen verblüffenden Doppeleffekt: Man ist sich der Illusionshaftigkeit des Gesehenen vollkommen bewusst und glaubt ihm zugleich bedingungslos. Wenn eine von der Kamera abgewandte Figur sich umdreht und eine Fuchsmaske vor dem Gesicht trägt, dann nimmt man ihr die Fuchshaftigkeit ab, obwohl sie nicht annähernd wie ein Fuchs aussieht.
Die politisch-inhaltliche Schwerpunktsetzung liegt sicher nicht nur an Dieter Kosslick, der erklärter Freund des engagierten Kinos ist. Sie liegt auch in der Geschichte des Festivals begründet. Angesiedelt an der Nahtstelle von Ost und West, war es von Anfang an politisiert. Hinzu kommt die von Manfred Salzgeber begründete Tradition, in der Panorama-Sektion zu präsentieren, wie sich das schwullesbische Kino entwickelt. Dass Wieland Speck und sein Team die Tradition fortführen und auch in diesem Jahr wieder ein profiliertes Gender-Trouble-Programm – mit Beiträgen zum Beispiel von Rosa von Praunheim, Monika Treut oder Jochen Hick – auf die Beine gestellt haben, ist etwas, was die Berlinale von den anderen großen Festivals klar unterscheidet. Damit schon erübrigt sich die zuletzt laut gewordene Frage nach der Berechtigung des Queer-Schwerpunktes: Wer je erlebt hat, wie eintönig die Liebes- und Geschlechtersemantik bei anderen Festivals gerät, freut sich über die Abwechslung.
Neu ist in diesem Jahr der World Cinema Fund, ein Förderinstrument mit dem Ziel, Filmproduktionen in Entwicklungsländern finanziell zu unterstützen – unter der Voraussetzung, dass diese einen deutschen Koproduzenten oder einen deutschen Verleiher aufweisen. An andere Auflagen ist der Zuschuss nicht gebunden. In der Vergangenheit konnten einige der viel versprechenden Regisseure und Regisseurinnen aus Ländern wie Argentinien oder Thailand ihre Filme nur deswegen drehen, weil sie von dem World Cinema Fund vergleichbaren Einrichtungen – etwa vom Rotterdamer Hubert Bals Fund – gefördert wurden. Dass die Berlinale hier mit Hilfe der Bundeskulturstiftung aktiv wird ist, ist zu begrüßen.
Zugleich bekräftigt die Gründung des World Cinema Funds den Trend zur Vergrößerung. Der Filmmarkt expandiert, die Sondervorführungen und -programme ebenso. Mal liegt ein Schwerpunkt auf dem Filmprogramm des Marshall-Plans („Selling Democracy“ im Zeughaus-Kino), mal präsentieren sich afrikanische Filmemacher unter dem Motto „We want you to want us“ im Theater Hebbel am Ufer; der Talent-Campus wiederum erfreut sich großer Beliebtheit bei den jungen Filmemachern, und erste Ergebnisse zeitigt er auch: „Lost and Found“, der Omnibusfilm, mit dem das Forum sein Programm eröffnet, ist aus dem Campus hervorgegangen. In der Fülle der Veranstaltungen den Überblick zu behalten, darauf sollte sich niemand versteifen, der Spaß an der Berlinale haben möchte.