: Ein Dasein in der Warteschleife
ABSCHIEBUNG Das Ehepaar Ates floh vor der PKK und Folter aus der Türkei nach Deutschland. Doch hier sollen die beiden nicht bleiben – obwohl sie an psychischen Krankheiten leiden
■ International: Die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans, PKK (Partiya Karkeren Kurdistan), kämpft seit 1984 für einen eigenen Staat der Kurden oder zumindest ein Autonomiegebiet im Südosten der Türkei. Dabei hat sie auch Anschläge in Touristengebieten verübt. Die PKK gilt auch in der EU und den USA als Terrororganisation. Bislang starben in der Auseinandersetzung zwischen dem türkischem Militär und der PKK bis zu 37.000 Menschen. Der Nordirak gilt als ihr Rückzugsgebiet. 1999 wurde ihr Anführer Abdullah Öcalan festgenommen, der seitdem in einem türkischen Gefängnis auf einer Insel im Marmarameer sitzt. Das Antifolterkomitee des Europarats hatte in den vergangenen Jahren mehrmals die Einzelhaft für den Gründer der Partei kritisiert.
■ Deutschland: Die PKK sammelt in Deutschland laut Verfassungsschutz nach wie vor Geld für den bewaffneten Kampf in den Kurdengebieten. Sie soll 11.500 Anhänger unter den mehr als 500.000 im Bundesgebiet lebenden Kurden haben. Im Jahr 1993 war die PKK in Deutschland nach einer Anschlagsserie verboten worden.
VON ANKE LÜBBERT
Wenn Mahmut Ates spricht, wandert sein Blick unruhig im Gesicht seines Gegenübers umher. Er hat Schmerzen, für die kein Arzt eine Ursache findet, vor seinen Augen spielen sich Szenen ab, die außer ihm niemand sieht.
Seine Wohnung gleicht der von tausenden anderen Asylbewerbern, die aus dem Heim in eigene vier Wände ziehen durften. Eine Plattenbausiedlung am Stadtrand von Bergen auf Rügen, ein muffiger Treppenflur, im Wohnzimmer eine Sitzgarnitur aus dem Sozialkaufhaus. Den größten Teil des Tages sitzt Mahmut Ates in einer Sofaecke. Neben ihm läuft im Fernseher das erst kürzlich von der türkischen Regierung zugelassene türkisch-kurdische Programm TRT 6. Der Ton ist runtergedreht.
Das Leben von Mahmut Ates war einmal heller, bunter und lauter. In seinem Wohnzimmer lehnt eine Fotografie. Mahmut ist fünf Jahre alt und steht mit seinen drei Brüdern vor einer Steinmauer im osttürkischen Sand, der Himmel ist noch viel blauer als seine Gummistiefel.
Anfang der Neunzigerjahre spitzt sich der Konflikt zwischen türkischem Militär und PKK in der Osttürkei zu. Mit 16 drängen ihn seine Eltern in Balova, seinem Heimatort in der Nähe von Mardin im Südosten der Türkei, zur Heirat. Für verheiratete Männern mit Kindern ist die Chance größer, dass die PKK sie in Ruhe lässt. Mahmut Ates heiratet, aber es hilft nicht viel. 1994, 19-jährig, gewährt er PKK-Aktivisten Unterschlupf. Seine Frau Gurbet Ates kocht für die Männer. Mahmut Ates sagt, sie hätten keine Wahl gehabt. Wer Kurde sei und die PKK nicht unterstütze, gelte als Verräter.
Er nennt es „die Krankheit“
Zwischen 1994 und 1996 sitzt Mahmut Ates zweimal, Gurbet Ates dreimal wegen ihrer Unterstützertätigkeit für die verbotene Organisation im Gefängnis. 1996 raunt ihm ein Bekannter zu, sein Name stehe auf einer Todesliste. Überstürzt fahren Mahmut und Gurbet Ates nach Istanbul. Wenige Wochen später sitzen sie in einem Flugzeug nach Düsseldorf. Ihre drei Kinder lassen sie zurück. Eines wird später nachreisen, die anderen beiden leben nach wie vor bei den Großeltern.
Die Ates versuchen ein neues Leben auf der Insel Rügen. Sanddorn und Seebäder, jedes Jahr beherbergt die Insel über eine Million Gäste. Mahmut und Gurbet Ates waren noch nie am Strand, noch nie an den Kreidefelsen oder an Rügens hügeliger Südostküste. Sie bekommen drei weitere Kinder. Sie sagen, um den Verlust der ersten beiden zu verwinden. Sie lernen ein bisschen Deutsch und bemühen sich um eine eigene Wohnung.
2003 kommt die erste Abschiebeankündigung. Bei Mahmut Ates bricht das aus, was er „die Krankheit“ nennt. Seither fühlt er sich nirgendwo sicher, kann nur noch mit Tabletten schlafen, verlässt das Haus nicht mehr. Er leidet unter Flashbacks und Albträumen, in denen er Gefängnisaufenthalt und Folter immer wieder neu erleben muss. Für Mahmut Ates bedeutet das, keinen Frieden zu finden, seinen Peinigern nicht entkommen zu können, nicht einmal hier, auch nicht in Deutschland. Es fühlt sich an, als würde nach 13 Jahren alles noch einmal geschehen, jeden Tag aufs Neue. „Ich habe keine Ruhe, nie“, sagt Mahmut Ates.
Seiner Frau Gurbet Ates geht es ähnlich. Im August 2006 fährt sie zu einer Fachärztin für Psychotherapie nach Bochum, die sie mithilfe einer Übersetzerin in vier Sitzungen interviewt.
Wurden Sie auch festgenommen?
„Ja, dreimal.“
Beschreiben Sie mir bitte, wie der Ablauf im Gefängnis war.
„Die hatten mir meine Augen verbunden. Die haben mich ausgezogen, mit kaltem Wasser bespritzt. Ich habe das nicht bei den deutschen Behörden gesagt, auch nicht meinem Mann, aber ich muss es endlich einmal sagen: Ich bin auch vergewaltigt worden. Ich glaube nicht, dass es möglich sein wird, dass ich das jemals vergessen kann.“
Die Fachärztin schreibt ein Gutachten für die Ausländerbehörde: „Da eine Rückreise den Krankheitszustand erheblich verschlechtern würde, ist aus medizinischer Sicht auf keinen Fall von einer bestehenden Reisefähigkeit auszugehen.“
Im Januar 2008 schickt die Ausländerbehörde Rügen die zweite Abschiebeankündigung. Wenige Tage später wird Gurbet Ates von ihrem Ehemann bewusstlos aufgefunden, neben sich eine Reihe leerer Tablettenpackungen. In dem Aufnahmebericht der Hanse-Klinik heißt es: „Vor dem Hintergrund der drohenden Abschiebung kam es bei der Patientin zu einer depressiven Dekompensation mit Suizidversuch.“
Amnesty International meldet in einem aktuellen Länderbericht für die Türkei „Folterungen und andere Misshandlungen sowie exzessive Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte“. Zudem sei „die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen […] unzureichend und ineffektiv. Nach wie vor bestanden Zweifel an der Fairness vieler Gerichtsverfahren.“
Nach Ablehnung eines Asylverfahrens ist es die Ausländerbehörde, die aus humanitären Gründen die Abschiebung verhindern, ein Bleiberecht aussprechen oder den Aufenthalt erleichtern kann.
Die Abschiebeandrohung für Familie Ates bleibt nach dem Suizidversuch von Gurbet Ates jedoch bestehen. Bevor die Familie abgeschoben werden kann, müssen die in Deutschland geborenen Kinder bei der türkischen Botschaft registriert werden. Insgesamt dreimal muss Mahmut Ates zur Registrierung nach Berlin fahren. Die Fahne, das Bild von Atatürk an der Wand des Konsulats lösen bei ihm einen akuten Angstzustand aus. Er sieht sich plötzlich wieder im Gefängnis, in dem Raum, in dem er nackt ausgezogen, an die Decke gehängt und mit kaltem Wasser übergossen wurde. Er hört die Stimmen seiner Folterer und fühlt die Fesseln an den Handgelenken.
Am 27. 6. 2008 schreibt Mahmut Ates einen Brief an Hans-Eberhardt Schulz, Rechtsanwalt für Demokratie und Menschenrechte in Berlin. Die Druckbuchstaben neigen sich mal in die eine, dann in die andere Richtung: „Sehr geehrter Herr Schulz, am 19. 6. 08 kam die Polizei um 6.15 zu mir nach Hause. Wie jedes Mal wollten sie mich nach Berlin ins türkische Konsulat bringen. Und ich hatte Angst, als ich die Polizei gesehen habe. Dann habe ich mich sofort bei ihnen gemeldet, damit ich weniger Angst habe. Dann hat mich die Polizei mit Zwang mitgenommen.“ Bei seinem dritten Besuch im türkischen Konsulat wird Mahmut Ates schließlich eröffnet, dass er zunächst ohne seine Familie abgeschoben werde.
Mahmut Ates kann nachts nicht schlafen, tagsüber gelingt es ihm nur mit Schlaftabletten. „Ich schäme mich“, sagt er, „ich bin ein schlechter Vater. Meine Kinder kommen von der Schule nach Hause und fragen mich, warum ich nicht arbeite wie andere Eltern. Ich sage ihnen, dass ich krank bin. Sie denken, das ist eine Ausrede.“
In einer Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Greifswald legt die zuständige Sachbearbeiterin nahe, dass es sich bei den Depressionen und Traumatisierungen um „banale Alltagsverstimmungen“ handle, zweifelt die ärztlichen Atteste an und legt als Beweis Ausdrucke der Online-Enzyklopädie Wikipedia bei. Die Sachbearbeiterin resümiert, „es könnte innerhalb einer Woche der Flug gebucht werden“, um Mahmut Ates allein und ohne seine Familie in die Türkei abzuschieben.
In den vergangenen Jahren wurden in Ausländerbehörden in Mecklenburg-Vorpommern wiederholt Fälle von Machtmissbrauch öffentlich. In Anklam verkaufte eine Mitarbeiterin der Behörde Aufenthaltserlaubnisse an vietnamesische Flüchtlinge, in Demmin demonstrierten die Mitarbeiter ihren Machtanspruch mit Gaspistolen. In einem Rechtsumfeld, das Entscheidungen über Leben und Tod dem Ermessensspielraum Einzelner überlässt, die oft selbst in einem Umfeld latenter Fremdenfeindlichkeit verwurzelt sind, geschieht Missbrauch von Macht jedoch meist viel subtiler.
Schulz erklärt die Sachbearbeiterin für befangen und legt Dienstaufsichtsbeschwerde ein. Gutachten bescheinigen erneut die Traumatisierungen der Eheleute und die erhöhte Suizidgefahr im Falle einer Abschiebung. In ihrem Gutachten vom 16. 10. 2008 kommt die Ärztin Manuela Dudeck aus Stralsund zu dem Schluss: „Wir raten von einer Abschiebung des Patienten ab und befürworten eine engmaschige psychotherapeutische Behandlung vor Ort.“
Findige Sachbearbeiter
Die Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde schreibt in einem Brief an den Rechtsanwalt der Familie, sie habe herausgefunden, dass „in der Türkei Medikamente, insbesondere Psychopharmaka vorhanden und erhältlich sind, sogar „schwere“ Medikamente.“ Einer Abschiebung steht für die Ausländerbehörde somit nichts mehr im Weg.
Mahmut Ates sagt: „Ich fühle mich wie ein Nichts. Wie tot.“
Mahir Ates, zehn Jahre alt, kommt von der Schule nach Hause. Seine Hände stecken in den Taschen, er schaut nicht auf.