Saure Äpfel bei Volkswagen

Vor fünfzig Jahren schlossen die deutsche und die italienische Regierung einen Anwerbevertrag. Seither kamen hunderttausende italienische Arbeiter nach Deutschland. Die Geschichte ihrer Integration wird erst allmählich geschrieben. Etwa am Beispiel Wolfsburgs

von CAROLA RÖNNEBURG

Die zweistöckigen Baracken sind aus Holz. Viertausend Männer sind hier untergebracht, jeweils vier in einem Raum von knapp dreizehn Quadratmetern. Möbliert ist er mit Etagenbetten, einem Tisch, vier Stühlen und einem Schrank. Das Gelände ist eingezäunt, am Schlagbaum vor dem Eingang wird jeder kontrolliert, der kommt und geht. Wachleute patrouillieren mit Schäferhunden.

In dieser Anlage leben die italienischen Arbeiter des Volkswagenwerks im Jahr 1962. Sie ist in aller Eile hochgezogen worden und wird weiter ausgebaut. Zwei Jahre später werden schon sechstausend Italiener nach Schichtende in dieses Lager zurückkehren, das betriebsintern nicht so heißen darf: „Das Wort ‚Lager‘ könnte Assoziationen hervorrufen, die wir im allseitigen Interesse vermeiden möchten“, instruiert VW-Generaldirektor Heinrich Nordhoff seine Mitarbeiter. „Die Bezeichnung ‚Unterkünfte Berliner Brücke‘ dürfte allen Erfordernissen gerecht werden.“

Nordhoffs Sorge um mögliche Assoziationen ist begründet. Das VW-Werk, 1938 von italienischen „Fremdarbeitern“ errichtet, hielt während des Zweiten Weltkriegs Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge in Baracken. Die Produktion von Hitlers Traumauto, dem Automobil für die Massen, lag da längst brach – VW stellte Bomben und Minen her; seine Sklaven bauten neben Amphibienfahrzeugen vor allem Kübelwagen für die Wehrmacht und die SS. 1944 schufteten hier auch 1.441 italienische Militärinternierte im „Arbeitskommando 6024“, davon rund tausend im Werk. Als „Verräter“ wurden die kurz zuvor noch verbündeten Soldaten misshandelt und gezielt ausgehungert, um sie zu höheren Arbeitsleistungen zu zwingen.

Diese Zeit liegt noch nicht lange zurück, doch die neue Unternehmensleitung von VW verschwendet keinen Gedanken an die Unterbringung ihrer „Gastarbeiter“. Ausländische Arbeitnehmer leben überall in der Bundesrepublik in zweifelhaften Unterkünften und haben es oft sogar noch schlechter getroffen als bei VW. Sechs oder mehr Personen bewohnen einen Raum – Saisonarbeiterinnen in der Landwirtschaft sind nicht selten zu zehnt –, in dem sie auch ihre Mahlzeiten zubereiten müssen. Nicht einmal einen aufeinander abgestimmten Tagesablauf gibt es – in verschiedene Schichten eingeteilt, stört man sich gegenseitig beim Schlafen. Vom Gesetz her sind Arbeitgeber nur gefordert, „angemessenen“ Wohnraum zu bieten.

In Wolfsburg gibt es für die je 68 Bewohner einer Etage an der „Berliner Brücke“ eine Küche mit achtzehn Kochplatten, dreizehn Waschbecken im Waschraum und vier Toiletten: Schlangestehen gehört zum Alltag. Rocco Artale, der nach einer Beschäftigung in einer Hannoveraner Zuckerfabrik 1962 bei VW auf ein „Sammelsurium verschiedenster Italiener“ stieß, erinnert sich besonders daran, wie es an jeglicher Rückzugsmöglichkeit fehlte: „Es gab keinen privaten und erst recht keinen intimen Bereich.“

Unterstützt durch Berichte der Tagespresse, herrscht allgemein die Auffassung, man müsse den Gastarbeitern auch nichts Besseres bieten. Ausländische Arbeiter sollen in diesen Jahren eine Zeit lang aushelfen, wieder gehen und bei Bedarf durch frische Kräfte ersetzt werden. Entsprechend sind ihre Verträge in den meisten Branchen befristet. Bei VW unterschreibt man gewöhnlich zunächst für ein Jahr, ab 1963 sogar nur für ein halbes. Viele halten es aber nur wenige Wochen aus. Beim Autohersteller entwickelt sich alles andere als eine Stammbelegschaft: Massenhaft verlassen die Italiener das Werk, kaum dass sie begonnen haben, hier zu arbeiten. Anne von Oswald ermittelte für ihre Untersuchung „Volkswagen, Wolfsburg und die italienischen ‚Gastarbeiter‘“, dass über die Hälfte der 1962 frisch eingestellten Italiener nicht einmal ein Jahr in Wolfsburg blieb.

Kein Wunder“, kommentiert Rocco Artale. Das Leben hinter dem Zaun ist trist und beschränkt sich nach acht bis zehn Stunden Arbeit auf „Essen kochen und Socken waschen“. Isoliert vom Rest der Stadt, sitzen die Italiener nach Feierabend in der Werkskantine. Die Freizeitbeschäftigungen heißen „Skat spielen und abwarten“. Rocco Artale ist heute Mitglied im Rat der Stadt Wolfsburg. In den Sechzigerjahren zählt er zu der kleinen Minderheit, die sich mit den Umständen arrangiert und einen langen Atem beweisen wird. Mit einem „sehr kleinen Kreis von Kollegen“ besucht er einen Deutschkurs in Braunschweig. Und lebt drei Jahre in der Baracke, bis er ein Zimmer zur Untermiete findet.

Die kasernierte Männergesellschaft im Werk sehnt sich nicht in erster Linie nach einem Theaterbesuch, sondern eher nach Frauen. Anne von Oswald schildert, wie sich Fahrgemeinschaften bilden, die Ausflüge auf den Braunschweiger Strich unternehmen, wo allerdings schon bald ein weiblicher Arbeitskräftemangel herrscht. Zu romantischeren Aktivitäten kommen die Italiener nicht, weil Wolfsburger Kneipenwirte und Tanzlokalbetreiber sie abweisen – die deutschen Männer fürchten die Konkurrenz.

Ganze neun Jahre bleibt die ausländische VW-Belegschaft hinter dem Schlagbaum. Zwar muss Heinrich Nordhoff schon 1965 akzeptieren, dass diejenigen, die der Fabrik nicht sofort den Rücken gekehrt haben, „mehr und mehr Gefallen an ihrem Gastland finden und dableiben wollen. Der Generalkonsul schätzt den Anteil unserer Italiener, die Wolfsburger werden wollen, auf achtzig Prozent. Das bedeutet Frauen, Kinder, Familien, Wohnungen, Schulen usw. Dieser Realität haben wir entgegenzusehen und uns darauf vorzubereiten.“ Man werde „in diesen sauren Apfel beißen müssen“.

Es geschieht jedoch nichts. Schlimmer noch, die Rezession kostet 1966/67 Tausende in der Bundesrepublik ihre Arbeitsplätze – vor allem Ausländer. Bei VW gibt es vordergründig keine Massenentlassungen: Das Unternehmen beschließt einen Einstellungsstopp und lässt viele Kurzverträge auslaufen. Bald darauf – die Konjunktur erholt sich merklich – werden wieder italienische Arbeiter angeworben. Wie schon im ersten Jahr greift die Personalabteilung auf ihre ursprünglich durch den katholischen Generaldirektor Heinrich Nordhoff gepflegten Beziehungen zum Vatikan zurück. Über die katholische Arbeiterorganisation ACLI und Kirchengemeinden hören Italiener noch in entlegensten Landstrichen davon, dass sie in Deutschland gebraucht werden. Und erneut bleibt nur die Hälfte von ihnen.

Erst 1970 entschließt sich das Volkswagenwerk, seine ausländischen Arbeiter aus den Holzbaracken in feste Behausungen zu bringen. In Kästorf, wenige Kilometer nördlich von der Fabrik gelegen, soll ein Kleinhochhauskomplex entstehen. Mehrbettzimmer soll es jedoch weiterhin geben. „Ein Ghetto“, so Rocco Artale. „Genau das, was wir nicht wollten.“ Rückblickend beschreibt er die Sechzigerjahre als Phase der Organisation, „als wir begannen, Forderungen zu stellen“. In den Siebzigerjahren haben Wolfsburgs Italiener „schon politische Wurzeln“, sagt Artale, und sie mischen sich ein. Ihre Wohnsituation ist nicht nur ein Thema für den Betriebsrat bei VW, dem mit Lorenzo Annese bereits seit 1963 ein Italiener angehört, sondern auch im Rathaus. Das mehrstöckige Arbeiterwohnheim in Kästorf ist nicht mehr zu verhindern, doch endlich werden in dessen Nähe auch Werkswohnungen für Familien gebaut. Einige italienische VW-Angehörige können mit ihren Frauen und Kindern zusammenleben. Andererseits bleiben die Italiener auch dort unter sich. „Deutsche wollten da nicht wohnen“, so Artale.

1974, als Artale Gewerkschaftssekretär der IG Metall wird, zuständig für Italiener und Tunesier, die seit vier Jahren angeworben werden, zieht ein alter Bekannter von ihm nach Wolfsburg: Antonio di Virgilio, Journalist und Mitarbeiter des italienischsprachigen „Radio Colonia“ beim WDR. Jetzt wechselt er in die Verwaltung der Stadt, die eines der ersten Ausländerreferate der Bundesrepublik eingerichtet und ihn angestellt hat. Damit leitet ein Ausländer eine deutsche Behörde, was einer kleinen Sensation gleichkommt.

Auch Antonio di Virgilio beschäftigt sich mit der Wohnsituation der italienischen Bevölkerung. Erst fünfzehn Prozent der VW-Männer haben ihre Familien nachgeholt. In anderen deutschen Städten sind es längst über fünfzig Prozent, doch in Wolfsburg mangelt es weiter an Wohnraum. Bei seinem Amtsantritt weist di Virgilio sarkastisch darauf hin, „dass es in Wolfsburg keine Hinterhöfe und keine abbruchreifen Häuser gibt“. Hinzu kommt, dass Arbeitsplätze für Frauen fehlen: VW beschäftigt keine Ausländerinnen – und möglichst nur unverheiratete deutsche Frauen. Erst 1978, sechzehn Jahre nach den ersten Anwerbungen, dürfen auch nichtdeutsche Frauen bei VW arbeiten.

Trotz dieser Widrigkeiten ändert sich langsam die italienische Bevölkerungsstruktur. Wie Heinrich Nordhoff schon vor langer Zeit erkannt hatte, geht es nun um Familien und damit auch um Kinder, die zur Schule gehen müssen. In Wolfsburg gerät die so genannte zweite Generation zwar erst später in Schwierigkeiten als im Rest der Republik, doch sie macht dieselben Erfahrungen. Ohne gezielte Förderung fällt es der Mehrzahl der Kinder schwer, dem Unterricht zu folgen. Sie sprechen kein Deutsch, ihre Eltern beherrschen es mehr schlecht als recht und können, auch weil sie selbst nur wenige Jahre zur Schule gegangen sind, ihrem Nachwuchs nicht helfen. In der Folge erreichen etliche ausländische Kinder nicht einmal den Hauptschulabschluss oder sie landen, als hoffnungslose Fälle abgestempelt, auf der Sonderschule.

Als Rosa Losengo-Ries 1987 Leiterin des zwei Jahre zuvor eröffneten Italienischen Kulturinstituts wird, ist die Situation noch immer nicht anders: Zehn Prozent der Wolfsburger Schulkinder sind italienischstämmig – und vierzehn Prozent davon Sonderschüler. „Es war nicht einzusehen, warum italienische Kinder dümmer sein sollten als deutsche“, sagt Marlies Ottimofiore, langjährige Mitarbeiterin am Kulturinstitut.

Mit ihrer Empörung über den Werdegang italienischer Kinder rennt Rosa Losengo-Ries bei Antonio Virgilio, Roc- co Artale und Lorenzo Annese offene Türen ein. Ende der Achtzigerjahre bereiten das Kulturinstitut und das Aus- länderreferat eine Tagung „Europäische Bildungs- und Ausbildungspolitik für Sprachminderheiten in Niedersachsen und Wolfsburg“ vor. Die Tagung findet 1990 statt und endet mit einer Resolution, in der die Teilnehmer eine bikulturelle, deutsch-italienische Schule für Wolfsburg fordern.

Diese Überlegung ist keinesfalls über Nacht entstanden, hat aber in überraschend kurzer Zeit viele Unterstützer gefunden: sämtliche verantwortlichen politischen Kräfte der Stadt, vom Oberbürgermeister bis zum Kulturdezernenten, den amtierenden italienischen Botschafter und den italienischen Staats- rat, Vertreter des niedersächsischen Kultus- sowie Wirtschaftsministeriums haben die Resolution unterschrieben. Uwe Sandfuchs, Erziehungswissenschaftler von der Universität Hildesheim, hat das Schulmodell entwickelt. Eine deutsch-italienische Schule, so sein Grundgedanke, vermittelt beide Sprachen und beide Kulturen gleichrangig. Außerdem soll sie „offen sein für alle interessierten Deutschen und Italiener aller Leistungsstärken, aller sozialen Schichten“, also als Gesamtschule geführt werden.

Das Projekt soll 1993 als Grundschule starten. Viele Fragen sind zu klären: Woher kommen die Lehrer? Welche Fächer werden auf Deutsch, welche auf Italienisch unterrichtet? Wie sollen Lehrpläne und Unterrichtsmaterial aussehen? Antonio Riccò, Mitarbeiter der italienischen Botschaft und zuständig für Schulpolitik, ist sofort für die künftige Schule zu begeistern: Er besorgt und prüft italienisches Unterrichtsmaterial. Wie groß die Schule wird, ermittelt das Ausländerreferat. Es verschickt Broschüren an Eltern mit Kindern im Grundschulalter und registriert ein großes Interesse – besonders bei den Deutschen. „Damals waren die Erwartungshaltungen der Eltern noch unterschiedlich“, erklärt Marlies Ottimofiore, „die Italiener sahen den Vorteil für ihre Kinder vor allem darin, in ihrer Muttersprache lernen zu können und ihre Bindung an Italien zu erhalten. Bei den Deutschen spielte der Gedanke an eine karriereförderliche Ausbildung die größere Rolle.“

Je zwanzig italienische und deutsche Erstklässler sowie sechs Kinder aus binationalen Verbindungen stellen den ersten Jahrgang der Schule, die zunächst unter dem Dach der Alt-Wolfsburger Grundschule untergebracht ist. Eine deutsche und eine italienische Lehrerin unterrichten gemeinsam. Jedes Planungselement sei auf mögliche ungewollte Nebenwirkungen hin zu analysieren, warnte Uwe Sandfuchs schon im Vorfeld, „die Praxis wird dann noch genug davon bereithalten“. So ist es: Ein Fahrdienst muss zum Beispiel organisiert werden, da die Schulanfänger aus verschiedenen Teilen der Stadt kommen. Mathematik, stellt sich heraus, kann nur eine Sprache haben – zählen und rechnen und auch noch eine neue Sprache lernen, das ist zu viel verlangt. Was, wenn ein Kind sich als herzlich sprachunbegabt erweist? Dann soll sich das „nicht nachteilig“ im Zeugnis niederschlagen, lautet die Antwort. Auch die Lehrerinnen betreten Neuland. Sie sind gefordert, sich ständig abzustimmen und als Duo zu arbeiten. Das Motto der Schule – „Miteinander lernen, um voneinander zu lernen“ – gilt für alle.

Heute besuchen 518 Kinder die wahrscheinlich meistbeschriftete Schule Niedersachsens. Jedes noch so kleine Schild auf den Fluren des Gebäudes ist in zwei Sprachen verfasst, jedes Klebeetikett auf den Kisten im Materialraum. Auch in den Klassenzimmern, besonders denen der Kleinen, wimmelt es von Buchstaben, Zeichen der zwei- sprachigen Alphabetisierung. Malen, Basteln, Theaterspielen und Singen kommen dabei nicht zu kurz, sondern sind feste Bestandteile des Unterrichts. Zusätzlich wird regelmäßig gemeinsam gekocht, selbstverständlich nach verschiedenen Landesrezepten.

Mit der Leistung der Schule können alle zufrieden sein. Schon vom Pionierjahrgang qualifizierten sich 22 Schüler für das Gymnasium, und selbst wer seine Zukunft nicht an der Universität sieht, hat mit Sicherheit mehr gelernt als Gleichaltrige an einer Regelschule. Sprachlich ohnehin, aber auch, was die eigene und die andere Kultur ausmacht.

Die Gleichberechtigung von Kulturen an einer Lehranstalt sorgt selbstverständlich nicht dafür, dass überall in Wolfsburg die deutsch-italienische Freundschaft gepflegt wird. Noch im November 2003 stellte der CDU-Ratsherr Benno Klett seine interkulturelle Inkompetenz unter Beweis, als er demonstrierende italienische Gewerkschafter als „Kanaken“ beschimpfte. Ein Teil der noch jungen Bevölkerung aber könnte inzwischen zweisprachig erzählen, wie die Italiener in Wolfsburg sesshaft wurden und Heinrich Nordhoff in den sauren Apfel beißen beziehungsweise, wie es im Italienischen heißt, die Kröte schlucken musste. Und wenn es eines Tages heißt, das Wahlrecht für Ausländer sei auf eine Wolfsburger Initiative zurückzuführen, sollte sich niemand wundern.

CAROLA RÖNNEBURG, 40, Ex-Wahrheit-Redakteurin der taz, lebt als freie Autorin in Berlin. Ihren leicht gekürzten Text entnehmen wir ihrem jüngst erschienenen Buch „Mille grazie. Wie die Italiener unser Leben verschönert haben“ (Herder Verlag, Freiburg, 160 Seiten, 6 Euro). Am 21. Februar liest Carola Rönneburg im Italienischen Kulturinstitut Wolfsburg aus ihrem Buch