: Meerumtostes Hinterland
Port Blair kann sich kaum mit touristischer Aufmerksamkeit brüsten. Dem Hauptort der Andamanen haftet immer noch das Stigma der Gefangeneninseln aus der britischen Kolonialzeit an. Die Flut brachte einen Augenblick weltweiter Aufmerksamkeit
VON BERNARD IMHASLY
Das Hotel trägt den schönen Namen „Emerald View“, doch der Blick vom Zimmer geht auf ein leeres Schweinegehege und über die Straße auf einen Schuppen. Über dessen halber Front steht in ausgeblichener Schrift „Hinterland Seamen’s Union“. Die rechte Hälfte ist vom Namensschild der Zweigstelle der „Communist Party of India (Marxist)“ besetzt, das rote Emblem teilweise verdeckt durch ein weißes Tuch, das zu Spenden für Tsunami-Opfer aufruft. Hinter diesen Alltagsperspektiven einer verschlafenen Kleinstadt öffnet sich der Blick auf die sanft geschwungenen Linien mehrerer Hügelrücken, die vorderen dicht besiedelt, jene am Horizont von Urwald überwachsen. Sie senken sich alle in einen Meeresarm, der wie ein tropischer Fjord tief in die Middle-Andaman-Insel hineinläuft. Zwischen den Hügelsenken nisten mehrere Schiffsanlegestellen und machen aus Port Blair einen natürlichen Tiefseehafen. Dies hat die Engländer wohl dazu bewogen, ihn bei der Besetzung im 19. Jahrhundert zum Hauptort der beiden Archipele der Andamanen und Nikobaren zu machen.
Im Innern des Hotels wird der Blick des Gasts sogleich auf die langen Streifen frischen Zements gezogen, die sich wie Schlangen über Wände, Decken, entlang den Gängen und Treppen ziehen. Das Management des Emerald View wollte nach dem 26. Dezember offenbar sofort die Erdbebenrisse flicken, um die Kunden nicht zu verängstigen. Doch die Andamanen gehören eben auch zu Indien. Der Job wurde nur halb gemacht, und die unverputzten Pflasterstreifen enthüllen nun mehr, als sie verhüllen.
Seit dem schweren Erdbeben, das den Tsunami am 26. Dezember einige Minuten vorher ankündigte, sind auf der Inselgruppe nicht weniger als 154 Nachbeben registriert worden. In Port Blair stürzten einige Häuser ein, es gab Risse in Straßen und auf der Mole der „Phoenix-Jetty“, aber im Großen und Ganzen kam die Hafenstadt erstaunlich glimpflich davon.
Nach den Hilfsorganisationen und den Medien hat sich nun eine dritte Berufsgruppe in den paar billigen Hotels der Stadt eingenistet: die Wissenschaftler. Im Emerald View ist ein Kartograf des Survey of India untergebracht, in anderen Hotels wohnen Meteorologen und Geologen, Mitglieder der Remote Sensing Agency und des Indian Oceanographic Institute. Sie Alle gehen davon aus, dass das schwere Seebeben vor der Südspitze der Inselkette sowie die rasch folgenden Nachbeben die Geografie der beiden Archipele nachhaltig verändert hat.
Für die Volksmeinung ist die Diagnose klar: Die nördliche Hälfte der Andamanen hat sich gehoben, daraus ersichtlich, dass viele Mangroven selbst bei Flut immer noch mit ihren Wurzeln aus dem Wasser ragen. Im Süden dagegen, auf den Nikobaren, liegen große Uferbereiche immer noch unter Wasser, ein Zeichen dafür, dass sich das Meer gesenkt hat. Port Blair wäre demnach der Stillpunkt auf dieser Schaukel gewesen, weshalb hier nur wenig sichtbare Schäden auszumachen sind.
Mein Nachbar im Emerald View lächelt nachsichtig über solche Volkstheorien. Er gibt aber zu, dass es zu großräumigen Verschiebungen gekommen sei, „aber eher in der Horizontalen als in der Vertikalen“. Er meint, die Inselgruppe habe sich um „einige Fuß“ nach Südwesten verschoben. Das dürfte die indischen Nationalisten beruhigen, die sich um eine stärkere Anbindung der Andamanen an das ferne Mutterland Sorgen machen.
Die Geografie, die Port Blair in eine Flugdistanz von einer Stunde zu Bangkok bringt, während ein Flugzeug aus Chennai mehr als die doppelte Zeit braucht, ist nicht der einzige Grund für den peripheren Zustand der Inseln. Ihnen haftet immer noch das Stigma der Gefangeneninseln an, das sie in der Kolonialzeit erworben hatten. Port Blair war im Unabhängigkeitskampf so etwas wie das „Alcatraz“-Gefängnis, wo hunderte von Freiheitskämpfern eingekerkert waren. Das „Cellular Jail“ ist heute zwar die wichtigste Touristenattraktion von Port Blair, doch die Spuren von Folter und Hinrichtungen lassen sich nicht so leicht in harmlose Geschichte überführen.
Die Touristen von jenseits des „schwarzen Wassers“ machen sich immer noch rar. Dafür haben arme Inder vom Festland sich hier eine Existenz aufgebaut, sei es als illegale Migranten aus Tamil Nadu und Westbengalen oder dank den Ansiedlungsprogrammen der Regierung. Diese hat in den letzten vierzig Jahren hier rund 300.000 ehemalige Soldaten, hinduistische Flüchtlinge aus Bangladesch, Stammesgruppen aus dem birmanischen Grenzgebiet und Landlose aus Bihar Wohnsitz nehmen lassen. Die Kolonisierung sollte den Souveränitätsanspruch Indiens über die Inseln stärken.
Heute ist die Migration offiziell abgeschlossen, und jede Person, die sich hier niederlassen will, braucht einen „Islander Pass“. Dieser ist aber offenbar auch käuflich zu haben, und die illegalen Zuwanderer gefährden die heikle Balance mit den Ureinwohnern, zu deren Schutz die Immigration kontrolliert und nun beendet wurde. Die meisten dieser illegalen Einwanderer (sie werden auf 150.000 geschätzt) siedeln aber in Port Blair und Umgebung. Sie machen aus dieser anscheinend so abgelegenen Kleinstadt am Rand von Südostasien in Wirklichkeit ein Miniatur-Indien. Im Basar um den Ganesha-Tempel herum hört man Tamilisch, Bengalisch, Oriya, Malayali, Punjabi sowie die Hindidialekte aus Bihar und Jharkhand. Es gibt Schulen für die verschiedenen Gemeinschaften, Wohnquartiere, und auch Gebetsstätten, wobei die christlichen eindeutig dominieren. Gerüchteweise respektiert sogar die einschlägige „Bar“ in der Nähe des Flughafens die ethnischen Präferenzen ihrer Kunden. Problematisch, sagen Vertreter von NGOs, ist die Situation dagegen auf den Inseln von Little Andaman und Car Nicobar im Süden. Dort kommt es manchmal zu Spannungen zwischen Immigranten und den Nikobarern, der einzigen der sechs indigenen Volksgemeinschaften, die mit rund 40.000 Einwohnern ein gewisses demografisches Gewicht geltend machen können. Die anderen Gruppen von Ureinwohnern sind derart geschrumpft, dass sie nur dank rigider Zugangskontrollen des Staats überhaupt überleben können. Einzig die Sentinelesen schlagen, da sie auf einer eigenen Insel leben, selbst den Schutz des Staats aus. Dies zeigt prototypisch ein Foto von einem Sentinelesen mit angespanntem Pfeilbogen, den er drohend gegen den Helikopter richtete, der nach dem Tsunami auf der Insel landen wollte. Vielleicht spüren die Sentinelesen, dass die eigentliche Gefahr der staatliche Schutz ist. Der paternalistische Schutz geht so weit, dass man dem Stamm sogar Zugang zu Fernsehen und Alkohol gibt, nur um ihn im Reservat zu halten. Indischen Reportern gelang es, die Familie des „Königs“ im Spital zu interviewen. Sie vermisse den Urwald, klagte ihnen Königin Surmai. Hier im Spital gebe es nicht einmal Fernsehen und sie sei doch eine große Verehrerin von Shahrukh Khan (dem Filmidol von Bollywood).