Konsens unter Reichen

Freihandel ist nicht die beste Rezeptur gegen das Elend in Entwicklungsländern. Arme Staaten brauchen keine Almosen, sondern eine gerechte Ordnung der Weltwirtschaft

Welchem Zweck dient die Liberalisierung: Wird die Ernährung der Armen so sicherer und reichhaltiger?

Die deutschen Wirtschaftsverbände, Exportweltmeister ihres Zeichens, treten aufs Gas: Sie beschleunigen den Unterbietungswettbewerb: Kostensenkung durch Flexibilisierung, Arbeitsplatzverlagerung und Kündigungen, Steuersenkung für Unternehmen durch Steuerreform. Und angesichts des simplen betriebswirtschaftlichen Kalküls der Deutschen Bank: „Wer kündigt, gewinnt“, pfeifen sämtliche Spatzen von den Dächern, dass nur noch die Rendite zählt, nicht der Mensch, und dass Umverteilung nur noch von unten nach oben funktioniert.

Doch Halt mal: Waren da nicht gerade andere Töne von den Konzernbossen zu hören, noble Worte von Armutsbekämpfung, Gerechtigkeit und sozialer Verantwortung? Nur zwei Wochen ist es her, dass sich der Davos-Mann beim Weltwirtschaftsforum im Schweizer Skiort ein neues Profil zulegte: Er trat als tapferer Armut und Aids bekämpfender Manager auf, als gleichzeitig gewinn- und gerechtigkeitsorientierter Gestalter der Globalisierung – mit harter Hand und weichem Herz.

Schon sah es so aus, als hätte die Tsunami-Welle der Solidarität die Wirtschaftselite weichgespült. Und als hätte der Handlungsdruck, den Chirac, Schröder und Blair mit Vorschlägen zu neuen Finanzierungsinstrumenten und Entschuldung machten, eine kollektive Läuterung ausgelöst. Hat die Wirtschaft ihr soziales Gewissen entdeckt? Ist sie bereit, sich der Verteilungsfrage zu stellen, die sie bisher der Politik überlassen wollte?

Mit ihrer in Davos entdeckten Armutssensibilität sind die Wirtschaftslenker in Unternehmen und Politik auf den „erweiterten Washington-Konsens“ eingeschwenkt, den die Weltbank seit ein paar Jahren als Rezeptur propagiert. Das alte neoliberale Credo des Washington-Konsens von 1989 mit den tragenden Säulen Haushaltsstabilisierung, Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung hatte versprochen, quasi automatisch zu Wachstum zu führen, Entwicklung anzukurbeln und Armut zu beseitigen. Inzwischen widerlegten die rauen Realitäten in Ländern des Südens und Ostens diese schönen Annahmen vielfach und vielfältig. Deshalb wird mit dem erweiterten Washington-Konsens nun eingeräumt, dass Marktliberalisierung nicht zwangsläufig Armut beseitigt, vielmehr besondere Maßnahmen zur Armutslinderung notwendig sind.

Der frühere Euphemismus neoliberaler Ökonomen, dass Liberalisierung und die intensivierte Standortkonkurrenz ein Win-win-Spiel seien, ist in allen neueren empirischen Studien und Politikpapieren zu den Folgen der Marktöffnung ersetzt durch die Formel: „Wie immer gibt es Gewinner und Verlierer.“ Strukturelle Ungleichheit, der systemische Widerspruch von Wohlstand und Armut, wird nun als quasinatürliche Gesetzmäßigkeit akzeptiert. Weil aber Armut durch das Welthandels- und Finanzregime immer wieder neu erzeugt wird, ist nicht mehr von Armutsbeseitigung, sondern nur noch von Armutsreduktion die Rede. Im Mittelpunkt steht dabei die Triple-A-Variante: Aids und Armut in Afrika.

Gleichzeitig fällt auf, dass der Begriff Entwicklungsland immer häufiger ersetzt wird durch emerging market, ein Begriff aus der Perspektive des Investors, der Entwicklung tunnelartig verengt auf Marktzugang und Wirtschaftswachstum. Soziale und ökologische Faktoren werden in dieser Denke zunehmend ökonomisiert und durch die real stattfindende Privatisierung kommodifiziert: Humankapital, Sozialkapital, Naturkapital … Weil Entwicklung und Freihandel in eins gesetzt werden, wächst gerade in der derzeitigen „Entwicklungsrunde“ der WTO der Druck auf die Länder des Südens, Handels- und Investitionsbeschränkungen schnell abzubauen und die Rolle des Staats darauf zu beschränken, Freihandelsbedingungen zu verbessern.

Entsprechend wird auch nicht an der Position gerüttelt, dass der Freihandel die beste Rezeptur gegen das Elend ist. Gerade hat die Weltbank wieder einmal den neoliberalen Mythos bestätigt, dass die Liberalisierung des Agrarhandels der Schlüssel zur Armutsbekämpfung sei. Doch wer, bitte schön, wird reicher? Die Agrarmultis, die Großgrundbesitzer, die Supermarktketten oder die Kleinbäuerinnen, die auf ihren Miniparzellen nun Gemüse für den Export anbauen und sich von importiertem Reis und Mais ernähren müssen? Welchem Zweck dient die Liberalisierung: Wird die Ernährung der Armen dadurch sicherer und reichhaltiger?

Wenn die wirtschaftlichen Führungskräfte nun tatsächlich die soziale Flanke ihrer Rentabilitätsstrategien erneut erfinden, wenn sie endlich die schon seit vielen Jahren angemahnte „soziale Unternehmensverantwortung“ entdecken, warum scheuen sie dann immer noch gesetzliche Regelungen zum Arbeitsschutz und staatliche Verordnungen wie der Teufel das Weihwasser? Warum beharren sie auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, wenn es um soziale und ökologische Mindeststandards geht? Warum lehnte die deutsche Wirtschaft mit Händen und Füßen ein simples Menschenrechtsinstrument wie ein Gleichstellungsgesetz ab? Warum heulen die Manager jedes Mal auf, wenn ein unabhängiges Team die Einhaltung von freiwilligen Verhaltenskodizes in der Exportproduktion in den so genannten Billiglohnländern des Südens überprüfen soll?

Soziale und ökologische Faktoren werden in dieser Denke zunehmend ökonomisiert

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass fairer Handel Vorrang bekommt vor freiem Handel und die transnationalen Konzerne die in UN-Konventionen festgeschriebenen Menschenrechte zu normativen Referenzpunkten ihres Tuns machen. Steuerflüchtlinge haben ihre Firmensitze auf hübschen entlegenen Inseln noch nicht verlassen. Die europäischen Dienstleistungskonzerne drängen die EU-Regierungen weiterhin, durch Gats die Liberalisierung des Dienstleistungssektors in den Ländern des Südens voranzutreiben – Turboliberalisierung und Privatisierung um jeden Preis, ganz gleich, wie das Entwicklungsniveau der jeweiligen Volkswirtschaft ist.

Hier weiß die eine Hand sehr wohl, was die andere tut: Die eine versucht durch den verschärften Unterbietungswettbewerb die Rahmenbedingungen für ihre Gewinnerwirtschaftung zu verbessern, die andere übt sich dann in Wohltätigkeit aus der Portokasse derer, die ihre Gewinne wieder einmal satt haben steigern können. Es ist keine Kurskorrektur am Welthandels- und Finanzsystem, wenn einerseits am Armut erzeugenden Freihandelsdogma festgehalten wird, andererseits die Globalisierungsgewinnler in Sonntagsreden ihr unter Rechenschaftsdruck geratenes Image aufpolieren und so tun, als wäre der Kampf gegen die Armut eine Frage der Gunst und Spendierfreude der allzu Reichen.

Geht es um gerechte Verteilung des global geschaffenen Reichtums, dann ist es Augenwischerei, wenn die Not nachträglich bei guter Gewinnlage durch Finanzspritzen gelindert oder abgefedert werden soll, statt Armut durch gerechtere Handelsstrukturen und Wirtschaftsregeln von Anfang an zu vermeiden. CHRISTA WICHTERICH