: Trotz Handicap nicht sprachlos
Nur zwei von vier Kölner Schulen für geistig Behinderte haben eine Schülervertretung. Eine von ihnen ist seit einem Jahr die Schule in der Redwitzstraße. Für Schüler und Lehrer ist das eine neue Erfahrung
VON RUTH HELMLING
Die blaue Tür fliegt auf. Womm, knallt die Klinke gegen die hellgelb gestrichene Wand. Herein marschiert ein schmales Mädchen, blonde Haare hängen ihr in die Stirn. Sie grinst, als sie Lehrerin Stephanie Heimlich entdeckt, und zeigt dabei ein paar verwegen schiefe Schneidezähne. Maria ist Klassensprecherin an der Schule Redwitzstraße für geistig Behinderte im Kölner Stadtteil Sülz. Am ersten Freitag im Monat, wenn ihre Klassenkameraden noch beim Frühstück sitzen oder schon im umgeräumten Speisesaal „Disko“ machen, geht Maria zum Treffen der Klassensprecher.
Vor über einem Jahr haben die Lehrerinnen Steffi Heimlich und Nina Hapke die Schülervertretung (SV) ins Leben gerufen, neben der Pestalozzischule die einzige an einer Schule für geistig Behinderte in Köln. „Die Schulleitung hier ist super offen für solche Sachen“, sagt Referendarin Nina Hapke. Die Idee sei ihr bei einem begleitenden Seminar gekommen. „Wir sollten sensibel werden dafür, dass auch geistig Behinderte wählen können, und sie mehr in die Entscheidungen miteinbeziehen“, meint Hapke. Das heißt für beide Seiten dazulernen.
Munteres Durcheinander
Einmal im Monat rücken je zwei Klassensprecher aus den drei Mittelstufen, zwei Ober- und Werksstufen im Lehrerzimmer zusammen. Maria lässt sich auf einen freien Stuhl fallen und klopft auf den daneben. „Steffi! Hierher!“, winkt sie ihrer Lehrerin Stephanie Heimlich. Nach und nach schlurfen, hüpfen, rennen, trudeln die restlichen 14 Klassensprecher ein. Klassensprecherin Steffi übertönt mit ihrer Stimme mühelos das muntere Durcheinander und schmettert einem Jungen in Baggys und Baseballcappy „Hallo, my bodyguard“ entgegen.
Schließlich setzt sich Stephanie Heimlich neben Maria, und ihre Kollegin Mirja Brendl sagt: „Heute wollen wir einen Schulsprecher wählen.“ Sie hält einen Zettel hoch und fragt: „Wer weiß, was ein Schulsprecher macht?“ Marias Finger schnellt in die Höhe. „Ich! Ich!“. Marias Augen springen über Mirja Brendls Gesicht und bleiben dann auf dem Blatt mit der Zeichnung hängen. Ihre Hände und Füße hören auf zu zappeln.
Maria überlegt. Da ist ein Mensch. Und noch einer. Der eine gibt dem anderen die Hand. Andy, ein ruhiger Junge mit sanften blauen Augen, lehnt sich vor und betrachtet konzentriert das Bild. Dann überzieht ein Lächeln sein Gesicht. „Neue Schüler und Gäste begrüßen“, sagt er. „Hast du das gelesen?“, fragt Mirja Brendl überrascht. Andy nickt stolz.
Andy ist einer der wenigen, die lesen können. „Wir müssen sehr viel mit Bildern und Symbolen arbeiten“, erklärt Stephanie Heimlich. Die Lerngruppen – in der Regel mit zehn Schülern – sind bunt gemischt. „Die einen sind schon an der Grenze zur Lernbehinderung, andere könnten im Prinzip auch auf eine Körperbehindertenschule gehen“, erklärt Nina Hapke.
Rund 120 Schüler aus dem Großraum Köln kommen jeden Tag in das Gebäude mit den freundlichen großen Fenstern zwischen Redwitz- und Palanterstraße, 30 Lehrerinnen und Lehrer plus Zivis kümmern sich von viertel vor acht bis drei um die Schüler. „Man ist hier nicht einfach Lehrerin, sondern lebt praktisch mit den Schülern zusammen“, erklärt Nina Hapke. Das ist es, was ihr an dem Beruf so gut gefällt. „Und die Schüler. Die sind so ehrlich“, ergänzt Stephanie Heimlich.
Klassensprecherin Steffi nimmt kein Blatt vor den Mund. „Wenn ich nicht Schulsprecher werde, dreh ich durch.“ Sie verschränkt die Arme und starrt mit grimmigem Gesicht auf das Flip-Chart. Zwölf Namen stehen darauf. Schulsprecher würden sie fast alle gerne sein. Jeder hat eine Stimme, sich selbst wählen gilt nicht. Hinter Steffis Namen ist noch kein Strich.
Florian neben ihr faltet den nächsten Stimmzettel auf und schaut ein wenig ratlos auf die pinkfarbenen Zeichen. „Wer is dat denn?“, rätselt Mirja Brendl, als sie die kreative Auslegung der deutschen Buchstaben entdeckt. Sie tippt auf Florian. Wütend zerknüllt Steffi den Zettel. Maria verschwindet auf die Toilette. „Kommt die wieder?“, fragt jemand, und die anderen lachen. Klar kommt die wieder.
„Das ist hier noch alles in der Aufbauphase“, erklärt Nina Hapke. Die Schüler müssen sich erst an die neuen Aufgaben gewöhnen und sie einordnen lernen. Im vergangenen Jahr haben sie Vorschläge für einen neuen Schulhof gesammelt und bei „Kölle putzmunter“ mitgemacht.
Maria will auch Schulsprecherin werden. Am Ende hat sie eine Stimme – wie die meisten. Alessandro ist mit drei Stimmen Schulsprecher, Steffi und Florian haben je zwei. Steffi ist enttäuscht. „Das ist doch voll behindert, nur Zweite zu sein“, meint sie und tritt ein wenig gegen die Tür. „Du hast doch auch gewonnen, du bist jetzt Stellvertreterin“, versucht Stephanie Heimlich sie zu beruhigen.
Leise Entschuldigung
Eigentlich haben alle gewonnen. Sie sind Klassensprecher an der Schule Redwitzstraße. Mirja Brendl hat schon den nächsten Packen Zettel auf dem Schoß liegen. „Was brauchen wir alles für unsere nächste Schulfeier?“, fragt sie. „Interessiert mich nicht“ ist alles, was Steffi daraufhin brummt. Dann setzt sie sich doch dazu und murmelt ein leises „‘tschuldigung“ in Stephanie Heimlichs Richtung. Plätzchen backen, schlägt sie vor. Ein anderer will Blumen haben.
Eine Stimme fehlt. Maria ist nicht wiedergekommen. Wahrscheinlich tanzt sie schon einen Stock höher in der Disko.