Bauernfängerglück im Klub

Das macht eben den Rock‘n‘Roll vom FC St. Pauli aus. Es ist gar nicht der Blues. Sondern das Wissen, dass es immer noch schlimmer gehen kann

anche Todeskandidaten haben das Glück, ein paar Jahre nach ihrem Todesurteil noch freizukommen, weil ihr Fall neu aufgerollt wurde. Nicht überliefert ist indes, dass einer, der mit dem Leben davongekommen ist, später den für sein Martyrium verantwortlichen Staatsanwalt oder Richter preist.

Der FC St. Pauli war auch mal fast tot: 1979 fuhr der damalige Präsident Ernst Schacht den Laden unter äußerst dubiosen Umständen an die Wand, der Lizenzentzug war die gerechte Folge, der Konkurs wurde nur durch ein Wunder abgewendet. Im Herbst 2004, auf der letzten Jahreshauptversammlung, bekam Ernst Schacht dann die Goldene Ehrennadel für besondere Verdienste verliehen.

Wer sich angesichts der aktuellen Steueraffäre (siehe oben stehender Text) fragt, warum eigentlich immer der FC St. Pauli im Chaos versinkt, dem mag diese verrückte Episode mit dem leicht schiefen Bild den Charakter des Vereins veranschaulichen. Im Erbgut des „most Rock‘n‘Roll club in the world“, wie das Magazin FourFourTwo ihn tituliert, sind die Gene für Blauäugigkeit und Irrationalismus sehr stark ausgeprägt.

Bauernfänger- und Sektenführertypen hatten es stets leicht, in wichtige Positionen zu kommen. Hinzu kommen Strukturprobleme: Nach dem Abstieg aus der Bundesliga in der Saison 96/97 war der Geschäftsführerposten knapp drei Jahre lang überhaupt nicht besetzt – und im Herbst 2000 gelangte in die Position, in der es mit Millionen-Umsätzen zu hantieren gilt, dann plötzlich eine Dame, die vorher als Redakteurin einer nicht sonderlich auffälligen TV-Zeitschrift nicht sonderlich aufgefallen war.

Für die alten Sünden büßt der Klub nun. Aufschlussreich auch eine Typologie der letzten vier Präsidenten: Zwei waren sehr geschäftstüchtige, sonstwie clevere, im landläufigen Sinne smarte Typen, die all ihre gottgegebenen Talente aber dummerweise nicht zum Wohle des Vereins einsetzten: Otto Paulick (1982-1990) und Reenald Koch (2000-2002), wobei letzterer eh nur eine Marionette des so genannten Paulick-Clans war. Klingt nach einer platten Verschwörungstheorie, aber im Fußball ist die Realität, das wissen wir spätestens dank Robbie Hoyzer, ja immer platter als alle Verschwörungstheorien.

Ihre jeweiligen Nachfolger, Heinz Weisener (1990-2000) und Corny Littmann (seit 2002), haben ebenfalls viel gemeinsam: Beide sind Patriarchen, Weisener einer der alten, Littmann einer der neuen Schule. Beide erwiesen sich als beratungsresistent, beide offenbarten Kommunikationsdefizite, die ihnen vielleicht mehr Ärger bereitet haben als ihre Politik. Auch wenn es paradox klingt: Langfristig wird man sie als die besseren Präsidenten des FC St. Pauli der letzten 20 Jahre in Erinnerung behalten. Denn sie haben versucht, zum Wohl des Klubs zu wirken – und den Job nicht aus Eigennutz gemacht. Abgesehen davon, dass jeder Boss eines Fußballklubs sein Ego gepudert haben möchte, was auch okay ist, solange alles andere okay ist.

Aus Erfahrung wissen wir, dass für die Zukunft des FC St. Pauli fast immer gilt: Es kann nur noch schlimmer werden. So lange kein seriöser Nachfolgekandidat für Littmann auf der Bildfläche auftaucht, sollte dies das Mantra aller Anhänger sein.

René Martens