Es riecht nach Revanche

Die 33 Stellvertreter des Volkszorns haben noch genug zu sagen: Betroffenheit und frenetischer Jubel nach den erzwungenermaßen Hauptmann-freien „Ersatz-Webern“ am Dresdner Staatsschauspiel

von MICHAEL BARTSCH

Kein Leichentuch, das der Bürgerchor Dresdner Weber seinem Stück gewebt hätte, sondern eine leidenschaftliche Auferstehung. Aus dem dreifachen Fluch des Berliner Landgerichtes auf den angeblichen Missbrauch des Hauptmann-Originals ist ein noch authentischeres, noch unmittelbarer politisches Stück geworden. Man ahnte es schon bei der ersten, dann untersagten Fassung vom 31. Oktober: Für das eigentliche Anliegen dieser Inszenierung ist der Hauptmann-Text nur eine Folie, obschon Regisseur Volker Lösch die alternative Collage ausdrücklich als Hommage an den Geist Gerhart Hauptmanns verstanden wissen will. Selbstironisch weist eine Parodie auf die Verfügung des Verlages Felix Bloch Erben hin, dass man ja nicht allzu viel zu streichen hatte.

Heines berühmtes Weber-Gedicht gehört nun auch zu der Collage wie Texte anderer Literaten des Vormärz oder von Karl Marx. Ebenso das von Hauptmann auch nur zitierte originale Lied des Aufstandes von 1844. „Hier wird der Mensch langsam gequält, hier ist die Folterkammer“, heißt es darin, und der Chor der 33 brüllt es wirklich aus der Kniekehle heraus. Es ist die einzige Berührungsstelle mit dem Originaltext, und Staatsschauspiel-Anwalt Spyros Aroukatos hat die Neufassung sozusagen gerichtsfest abgenommen.

Wichtigste Komponente bleiben die selbst verfassten Texte des Chores in fünf großen Blöcken. Angefangen von der makabren Selbstanpreisung und Massenprostitution auf dem Arbeitsmarkt über den verbalen und gewalttätigen Ausbruch aus dem Gefühlsstau bis hin zu den rührend-naiven Träumen von Kommunismus oder Gutmenschenreich am Schluss. Darunter auch die inkriminierten Passagen gegen die „dämliche Quaderschnauze“ Milbradt, das „Verräterschwein Schröder“ im Hamsterlaufrad und die erschießungswürdige Frau Christiansen. Hier schien es mit dem Chor durchzugehen. Mag es wirklich ein Urschrei gewesen sein, jedenfalls verfiel das sonst so präzise Ensemble in hörbare Asynchronitäten.

Dritte Komponente schließlich sind Gegenwartstexte und saftige, Richling-reife Parodien. Es riecht nach Revanche, wenn Karina Plachetka zur endlosen Gaudi des Publikums Christiansens Beine-überkreuz-und-Brillen-Show mimt, die mit ihren Null-Fragen und Null-Aussagen schließlich in das Goldene Kalb, den Daimler des originalen Fabrikanten Dreissiger verlegt wird. Das ist mit Rücksicht auf das Budget des Staatsschauspiels hier nur noch ein gold gespritzter Kadett, der wie in der Erstfassung von den Webern dann lustvoll zertrümmert wird. Frontal drauf hält auch der köstliche Auftritt von Albrecht Goette als zickige Hauptmann-Enkelin und die ihr assistierende Verlagsbuchhalterin. Der Chor kriegt ein Pflaster über den losen Mund, fertig. Bundespräsident Köhler tritt im O-Ton, aber im Stil von Pastor Fliege auf und erinnert die Arbeitslosen an das Elend der übrigen Welt. Nein, um Revanche ginge es nicht, versichern Regisseur Lösch und Chormitglieder. Man habe aus dem Frust heraus „ein bisschen Spaß beim Proben“ haben wollen.

Doch dieser zweifellos gelungene Spaß kann auch als mangelnde Souveränität interpretiert werden und verwässert das Hauptanliegen ein wenig. Das besteht eben in der auch von Einar Schleef bekannten Methode, in einer sprachlosen Situation der Vox populi Raum zu geben: in all ihrer präfaschistischen oder naiv-anarchistischen Ambivalenz, befreiend und beängstigend zugleich, in jedem Fall eine Warnung. Immerhin brüllt der Chor auch das Manifest der Glücklichen Arbeitslosen nieder, weil er mit Lafargues Visionen sinnvoller, aber existenzsichernder Wenig-Arbeit überfordert ist. Chorleiter Bernd Freytag schränkte in der anschließenden Diskussion, zu der wie schon im Herbst 2004 oder in Wendezeiten 1989 mehr als die Hälfte der 800 Zuschauer blieb, die Euphorie eines Jugendlichen selbst ein. Der Begriff „Volk“ sei nicht von vornherein positiv besetzt, begegnete er dem von vielen als stellvertretend begriffenen Ausbruch des Volkszornes auf der Bühne.

Von dieser Leidenschaft des Chores lebt die Neufassung noch stärker. Die Interimslösung, so die Zuversicht des Hauses auf einen endlichen Gerichtserfolg, ist keinesfalls das befürchtete szenenarme „Aufsagetheater“ geworden, auch wenn sich beim zweiten Hören gewisse Längen bei Chorpassagen bemerkbar machen.

Auffällig ein anderer, weniger deprimierender Schluss, an dem die süßen Zukunftsträume stehen und nicht ein Häuflein entwürdigter Jammergestalten in Unterwäsche oder weniger. Acht Minuten Standing Ovations danach, Intendant Holk Freytag musste auf die Bühne. Nach einer Umfrage wollen 100.000 Dresdner das Stück sehen. Immerhin hat sich auch das sächsische Regierungskabinett mit den „Webern“ befasst, ist der Vertrag eines mit einer Choristin verheirateten Ministeriumssprechers unter merkwürdigen Umständen nicht verlängert worden.