Die Wette ist der Sport

Spielt Dardanelspor, Karagümrük oder diese Tennis-Inderin? Geht es um Fußball, Hockey oder eine andere Sportart? Völlig egal – denn nur das Ergebnis zählt. Ein Besuch bei Experten für privates Sportwetten im schwäbischen Heilbronn

AUS HEILBRONN SABINE LÖHR

„Türkei Zweite Liga, wer braucht Türkei Zweite Liga?!“, schmettert ein dicker Mann durch den Laden und kommt mit einem Stapel Papier aus dem Hinterzimmer. Hände schießen in die Höhe, sichern sich ein kopierwarmes Blatt mit den neuesten Quoten. Dann herrscht wieder konzentrierte Stille bei „Goalbetter“ in Heilbronn, wie bei einer Klassenarbeit. Ein älterer Herr schiebt seine Brille zurecht, liest mit dem Finger bedächtig Zeile für Zeile in der langen Liste aller Spielbegegnungen, bleibt schließlich an Dardanelspor gegen Karagümrük hängen. Heimsieg, Unentschieden, Auswärtssieg? Ein kräftiger Strich markiert das Ergebnis. Hier wird nicht gekreuzt. Kreuzen ist für Lottolangweiler.

Zwei Euro auf Sieg

Es herrscht gedrängte Enge im Raum des privaten Sportwettenanbieters „Goalbetter“ in Heilbronn. Schwer zu finden ist der Eckladen im tristen Bahnhofsviertel nicht, über die gesamte Fensterfront werben große Klebefolien für das Wettbüro. Die vier Tische in dem kleinen Raum sind wie zu zwei Inseln in dem kleinen Raum zusammengestellt. Um den einen sitzen die Alten, der andere ist für die Jungen. Boris findet nur noch einen Stehplatz am Fenster. Der Sechsundzwanzigjährige muss sich hinunterbeugen, um auf der schmalen Ablagefläche seinen Wettschein auszufüllen, er schiebt sich die Locken hinter die Ohren und zückt einen Stift. Atlético Madrid gegen FC Barcelona? Boris setzt zwei Euro auf einen Sieg des FC.

Die einzige Frau im Laden hängt an der Wand: Das barbusige Kalendergirl schaut aufreizend in die Runde, doch niemand schaut zurück. Die beiden Fernseher sind interessanter. Auf ihnen flimmert der CNN-Videotext mit den internationalen Sportseiten. Die Quote für einen Sieg von Atlético gegen den FC Barcelona liegt bei sagenhaften eins zu acht. „Dass Madrid gewinnt, wäre total auf Risiko gewettet“, sagt Boris. Er ist Experte für Sportwetten, denn die letzten drei Jahre waren private Wettbüros sein zweites Wohnzimmer. „Ich ging jeden Tag nach der Arbeit sofort hierher. Es war wie eine Sucht.“ Er wettete auf immer mehr Partien, immer riskanter, immer höher. Seine Wohnung war für ihn nichts als ein unpersönlicher Schlafplatz. Monatelang stapelte sich die ungelesene Post, natürlich auch die Kontoauszüge. Eher zufällig öffnete er letzten Sommer einen Brief seiner Bank, die ihn dringend zu einem Gespräch bat. Er hatte die Grenzen seines Dispokredits weit überschritten. 8.000 Euro Schulden, erfuhr der Feinmechaniker, hatte er zwischen Februar und August angehäuft.

Die Tafel springt um. Zeigt aktuelle Ergebnisse. Dardanelspor - Karagümrük 4:1. Rot blinkt der Hinweis „live“.

Boris kommt aus Montenegro, und auch die Mehrheit an den beiden Tischgruppen spricht als Muttersprache eine Sprache vom Balkan. „He, was willst du wetten, ich bin Kroate, ich mach gleich ’nen Anruf für dich, kein Problem!“, witzelt ein Freund von Boris. Ein anderer findet: „Das musst du erst mal hinkriegen, ein Spiel todsicher so ausgehen zu lassen, wie du es willst.“ Empörung über abgekartete Spiele findet man kaum unter den Gewohnheitszockern. Wer täglich tippt, für den fällt die Anzahl manipulierter Spiele gerade mal in den Promillebereich. „In anderen Ligen sieht es sowieso viel schlimmer aus“, glaubt Boris. Auf seinen Lieblingsclub Partisan Belgrad würde er daher sowieso nie wetten.

In Heilbronn gibt es fünfzehn private Wettbüros, die alle gegenüber dem staatlichen Anbieter Oddset zwei unschlagbare Vorteile haben: Man springt nicht mal kurz in die Lottoannahmestelle, macht seine Striche und verschwindet. Bei den Privatanbietern sitzt man am Tisch und diskutiert. Manchmal Stunden. „Außerdem sind die Gewinnchancen viel höher“, erklärt Boris und rechnet ein Beispiel für eine Dreierkombinationswette bei Oddset vor: Die Bayern verlieren gegen Bayer Leverkusen. Quote auf Sieg der Werkself: 4,15. Dann werden die Borussen vom Freiburger SC bezwungen. Das gibt eine glatte 4,0. Als Drittes gewinnt Werder beim VfL Wolfsburg, die Quote lautet 2,40. Trifft das so ein, werden die drei Wettquoten multipliziert, macht einen Gewinn von 39,84 Euro bei 1 Euro Einsatz. Ein privater Anbieter hingegen zahlt für diese Tippkombination mehr als das doppelte: 89,10 Euro.

Doch es geht nicht nur um die besten Quoten, es geht vor allem um Sachverstand. Denn Wissen macht das Gewinnen wahrscheinlicher: „Man liest Statistiken und registriert alle Details, zum Beispiel, dass Freiburg bei Kaiserslautern eigentlich immer gewonnen hat. Boris blättert in einer vierseitigen Liste mit den Quoten und Ergebnissen der letzten Partien. Diese Listen bedecken die Tische hier als zentimeterdicke Papierstapel.

Rostock muss gewinnen

Am Tisch der Jungen analysiert ein vielleicht 18-jähriger Türke, auf dem Kopf die Baseball-Mütze der L.A. Lakers: „Hansa braucht den ersten Heimsieg, absoluter Angstgegner der Schalker.“ Ein anderer assistiert: „Letzten vier Spiele gegen Königsblau hat Rostock gewonnen.“ Die Sportexperten am Jungentisch befinden, dass Rostock gewinnt. Ihre Erfahrungswerte deuten klar darauf hin. Selbst Bravo Sport ist nützliche Wettlektüre. Wenn David Beckham sich mit Victoria zofft, spielt er aller Voraussicht nach unkonzentriert. Real Madrid wird das nächste Spiel wohl nicht gewinnen.

Für die Jüngeren geht es beim Wetten oft um mehr als um den bloßen Zeitvertreib mit Freunden, sagt Boris: „Es geht um Selbstbestätigung.“ Man beweist den anderen seinen Fußballsachverstand, und damit irgendwie wohl auch seine Männlichkeit. „Wenn du gewinnst, bist du kein Loser.“ Viele, die hier ihr Geld verwetten, sind arbeitslos. „Manche ruinieren sich hier erst recht“, sagt Boris inzwischen, und meint es nicht nur finanziell: „Mein Kumpel Kosta kann an nichts anderes mehr denken. Läuft mit einer Hand voll Quotenlisten von einem Wettbüro zum nächsten, liest sie sogar beim Gehen.“

Bevor es bei ihm selbst so schlimm wurde, hat Boris aufgehört. Er spielt nur noch gelegentlich mit geringen Einsätzen. Leicht war es nicht, das Wetten war so viel spannender als der Alltag. „Ich hatte jedes Mal Herzklopfen, war völlig angespannt, aufgeregt“, beschreibt er das Gefühl des Wettens. „Das ist ein richtiger Kick. Du fühlst dich total lebendig in dem Augenblick.“

Rostock verliert

Zwei Stunden später hat Rostock verloren. Auch verlieren, sagt Boris, ruft extreme Gefühle hervor. Keine schönen, aber dennoch lebendigere als der ewig lauwarme Alltag. Verzweiflung bei großen Verlusten kompensierte Boris immer durch Weiterspielen. „Ich wollte mir mein Geld zurückholen“, auch wenn er sich das Geld für den nächsten Wetteinsatz von einem Kumpel pumpen musste.

„Einen falschen Tipp versucht man irgendwie wegzuerklären“, bekennt Boris. Man hätte richtig gelegen, wenn nicht irgendetwas Unerwartetes dazwischengekommen wäre. Ein Platzverweis, ein plötzlich erkrankter Stürmer, ein Schiedsrichterirrtum. Alles kann die perfekte Erklärung für den falschen Tipp sein.

Gegenstück zum Gewinn ist also immer der Fastgewinn. Unendlich viel tragischer als schnödes Verlieren aus Unkenntnis oder aus Pech, erlaubt ein Fastgewinn den Sportwettern immerhin noch, in die Rolle des tragischen Helden zu schlüpfen. Der nach wie vor auf seinem Expertentum beharren kann. Und das nächste Mal sicher gewinnt.

Zusammen mit einem Freund hatte Boris im letzten Sommer riskant getippt, dass gleich eine Viererkombination von Spielen unentschieden ausgehen würde. Und sie hatten Recht. Mit einem Einsatz von 150 Euro hatten sie auf einen Schlag über 10.000 Euro gewonnen. Fast gewonnen. Als sie den Schein einlösen wollten, erkannte das Wettbüro den Schein nicht an. Es gab kein Geld, nur laue Erklärungen, der Schein sei nicht in Ordnung. „Die haben uns voll über den Tisch gezogen.“

Seither spielt Boris nur noch unter der schützenden Hand des Staates beim „Langweiler“ Oddset. Dort werden demnächst auch die Männer aus „Goalbetter“ und den anderen privaten Büros in Heilbronn ihre Wettscheine abgeben müssen, denn schon in wenigen Wochen werden die Dauergäste der 15 privaten Sportwettenanbieter der Stadt wohl heimatlos sein. Die Kommune hat Anfang des Monats gegen die Betriebe ein Untersagungsverfahren wegen verbotenen Glücksspiels eingeleitet.

Ein aussichtsloser Tipp

Schon kurz vor sechs. Alle Bundesligaspiele sind also längst gelaufen. Wer will, kann schon mal vorwetten auf den nächsten Tag: Basketball in Griechenland, Eishockey in Finnland und diese Inderin im Tennis. Zehn Euro und eine Quote von 1 zu 360. Die Hand des Ladenbesitzers stockt das einzige Mal an diesem Tag, als ich meinen Schein abgebe. Er zögert, den offenbar völlig aussichtslosen Tipp auf Sieg in den Computer eingeben. „Willstmichverarschn?“, sagt seine Miene, „oderweißtduwas, wasichnichweiß?“