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Archiv-Artikel

Blamage eines Cineasten

„Gibt es hier denn keinen Film mit Jean-Claude van Damme?“ – Als Kulturbanause auf der Berlinale. Eine Kurzgeschichte inklusive Intellektuellenmütze, Podiumsdiskussion und Vater-Sohn-Problematik

VON STEPHAN ZEISIG

Gregors erster Berlinalefilm war ein Ereignis von geradezu historischer Dimension. Kino war eigentlich nicht so seine Sache, aber er wollte seinen bildungsbürgerlichen Eltern endlich beweisen, dass auch er was für Kultur übrig hatte. Die jammerten schon seit Jahren, ihre Erziehung habe bei ihm überhaupt nicht gefruchtet. Statt für Jazz, Malerei und Theater interessiere er sich nur für HipHop, Comics und Fernsehen. Sie würden große Augen machen, wenn er ihnen die Eintrittskarte vorlegte. Die Schlange im Foyer vom International lud zwar nicht dazu ein, sie noch um sich selbst zu verlängern. Gregor tat es trotzdem. Er griff sich einen Berlinale-Katalog. Die Titel sagten ihm alle nichts. „Chosun nam nyeo sang yeol jisa“, „Akame shijyuataki shinjymusui“, „Helmiä ja sikoja“. Da wusste man ja noch nicht mal, um welche Sprache es sich handelte. Eine Inhaltsangabe fehlte auch. Woher sollte er da wissen, ob die Geschichte etwas für ihn war? Die Herausgeber vom Berlinale-Programmheft hatten ganz schön geschludert. So konnte sich Gregor jedenfalls nicht entscheiden. „Wofür möchten Sie Karten?“, wollte der Ticketverkäufer wissen.

„Ich weiß nicht. Ich hab mich noch nicht entschieden.“

„Das sollten Sie aber. Es warten noch genug Leute hinter Ihnen.“

„Welchen Film würden Sie mir denn empfehlen?“

„Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen einen Film zu empfehlen. Sie müssen schon selber einen aussuchen.“

„Können Sie mir denn wenigstens zu allen Filmen, die noch laufen, eine kurze Inhaltsangabe geben, damit ich weiß, worauf ich mich einlasse.“

„Erstens habe ich die Filme nicht gesehen und zweitens hätten die 30 Leute hinter Ihnen sicherlich ein Problem damit, wenn ich Ihnen zu 250 Filmen eine Inhaltsangabe machen würde“, lehnte der hinter der Scheibe ab.

„Dann sagen Sie mir wenigstens, in welchen Filmen bekannte Schauspieler mitspielen!“

„In ‚Country of my skull‘ spielt Juliette Binoche mit.“

„Kenne ich nicht.“

„Und in ‚The Missing‘ Cate Blanchett.“

„Gibt’s denn keinen Film mit Jean-Claude van Damme?“

„Nein. Tut mir leid. Der war sonst immer dabei. Aber diesmal nicht. Die Berlinale wollte nicht immer dieselben Schauspieler einladen.“

Gregor kam nicht weiter und wählte am Ende einen Film mit dem Titel „Jumalan Morsian“. Ausschlaggebend für die Wahl war, dass es für den Film noch Karten gab. Das war Gregor im ersten Moment etwas willkürlich erschienen, der Kartenverkäufer hatte ihm aber erklärt, alle würden sich genauso verhalten. Niemand gehe wegen bestimmten Filmen auf die Berlinale.

Gregor war sein Auftritt am Ticketschalter peinlich. Er hatte sich als Kulturbanause geoutet. Bestimmt hatten das auch die Leute hinter ihm in der Schlange wahrgenommen. Wenigstens bei der Vorführung wollte er eine bessere Figur abgeben, die Figur eines Intellektuellen. Dazu musste selbstverständlich auch das Outfit stimmen. Gregor entschied sich für eine beigefarbene Cordhose, ein graues Hemd, dazu ein abgewetztes schwarzes Jackett, mit dem sein roter Schal kontrastierte, den er sehr intellektuell um den Hals gewickelt hatte. Den Kopf bedeckte er mit einer Baskenmütze, seine Brille schob er nach vorne auf die Nasenspitze.

Ein wichtiges Distinktionsmerkmal war auch der Gang. Normale Menschen hetzten durch die Gegend, da sie ständig von einer unbestimmten Eile angetrieben wurden. Schwere Gedanken erlaubten indes nur ein Vorwärtsschreiten mit langsamen, ruhigen Schritten, den Rücken gekrümmt, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, Denkerfalten auf der Stirn und die Hände tief in den weiten Hosentaschen vergraben. Gregor hielt sich an die Vorgaben, als er das Babylon, in dem der Film gezeigt wurde, betrat. Unter seinem rechten Arm klemmte die chilenische Ausgabe der Le Monde diplomatique.

Er erschien absichtlich etwas zu spät. Die anderen aus dem Publikum sollten merken, dass er auf die Werbung verzichten konnte. Er fand nur noch einen Platz in der drittletzten Reihe. Seinen Nachbarn, einem Mittfünfziger, klärte er über die Gründe seines späten Erscheinens auf: „Ich bin absichtlich zu spät gekommen. Ich hatte keine Lust, mir 20 Minuten Werbung anzutun.“ Sein Nachbar klärte Gregor darüber auf, dass auf der Berlinale grundsätzlich keine Werbung gezeigt wurde und dass das da vorne schon der Film war. Gregor hatte sich schon wieder in ein Fettnäpfchen gesetzt. Zu allem Übel konnte er nicht mal etwas erkennen. Die Zuschauer vor ihm waren alle größer. Eigentlich war Gregor nicht klein, nur sein Rumpf war überaus kurz. Dafür hatte er überlange Beine. Da er keine Sitzkissen dabeihatte, musste er seine Knie bis zum Kinn anziehen. Eine missliche Lage. Hoffentlich verstand man die Geschichte auch, wenn man nur auf die Dialoge achtete.

Nein! Die hatten den Film nicht mal synchronisiert. Eine Frechheit! Die Sprache sagte ihm überhaupt nichts. Ihm blieb nichts anderes übrig, als jedes Mal, wenn einer im Film den Mund aufmachte, aufzustehen, um den deutschen Untertitel zu lesen. Das sorgte für zunehmenden Unmut bei den Zuschauern hinter ihm.

Zum Glück sprachen die Protagonisten nicht oft. Es gab praktisch nur eine Äußerung, die permanent wiederholt wurde. Ein etwa zehnjähriges blindes Mädchen, Angehörige eines nordrussischen Nomadenvolkes, tastete sich einmal pro Tag an einem Seil vom Zelt ihrer Großmutter zum 20 Meter entfernten Fluss und befeuchtete ihre Augen mit Wasser. Dann schaute sie zum Himmel und rief: „Oh, Wasser, oh, Sonne! Bitte sorgt dafür, dass ich wieder sehen kann!“ Natürlich wurde das Mädchen nicht geheilt. Am Ende der Geschichte starb aber ihre Großmutter.

Danach wurde mit dem Regisseur diskutiert, und Gregor erfuhr, dass es sich um einen semidokumentarischen Film über das kleine Volk der Nenzen handelte, die ihre eigene Sprache besaßen. Von der Diskussion bekam Gregor nicht viel mit, da er vollkommen von seinen eigenen Überlegungen eingenommen war. Durch welchen Beitrag sollte er sich in die Runde einbringen? Er vernahm nur Schlagworte wie Nouvelle Vague, Rezeptionsästhetik, Neuer Realismus, Cinéma Engagé, Verfremdung und Symbol, mit denen er aber nichts anzufangen wusste. Zum Glück hatte er bald eine Frage gefunden.

„Ja! Ich sehe da hinten eine Wortmeldung. Der junge Herr mit der Baskenmütze.“

„Also ich habe eine Frage. Also, warum gab es am Ende kein Happy End? Wäre doch gut gewesen, wenn am Ende das Mädchen von einem amerikanischen Arzt geheilt worden wäre, der sie dann mit nach Kalifornien genommen hätte, wo sie seine Frau geworden und in seine Villa gezogen wäre, so mit großer Hochzeit und so. Den Arzt hätte doch Richard Gere spielen können.“

Schweigen im Auditorium. „Soll ich die Frage noch mal wiederholen?“

Von der anderen Seite des Saals rief ein Mann, der Gregors Vater hätte sein können: „Sei endlich ruhig, Gregor! Blamier mich nicht!“

Der Mann war Gregors Vater.

„Papa?“

Gregors Vater realisierte gerade, dass er soeben einen gravierenden Fehler begangen hatte. Das Publikum wusste nun, dass sie zusammengehörten. Er versuchte, dies zu revidieren.

„Ich bin nicht dein Vater.“

„Doch!“

„Nein! Bin ich nicht.“

„Woher wussten Sie dann seinen Namen?“, mischte sich der Moderator ein.

„Geraten. Gregor schien mir am nahe liegendsten. Ich nenne alle Menschen, die ich nicht kenne, zunächst einmal Gregor.“