Die Nazizeit fasziniert noch immer, weil wir keine Utopien mehr haben

Wird der 8. Mai in Deutschland als Tag der Befreiung gefeiert – oder als Datum einer Niederlage? Und: Stehen das Erstarken der NPD und die Erinnerungen an deutsches Leid in einem inneren Zusammenhang? Die ErinnerungsforscherInnen Aleida Assmann und Harald Welzer in der Debatte um deutsche Befindlichkeiten sechzig Jahre nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg

INTERVIEW VON JAN FEDDERSEN und STEFAN REINECKE

„Das ist unser Familienerbe“ stand auf dem Titel des taz.mag vom 22./23. Januar, Dokument eines Gesprächs der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann und des Sozialpsychologen Harald Welzer mit der taz. Befragt wurden beide zur deutschen Erinnerungskultur und -politik sechzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus. Ihr Disput hat in der Leserschaft Diskussionen angeregt. In dieser Ausgabe des taz.mag erscheint der zweite Teil ihrer Erörterung.

taz.mag: Sechzig Jahre nach Kriegsende setzt sich durch, was der israelische Soziologe Nathan Sznaider Universalisierung Holocaust nennt. Der Holocaust ist ein globales Symbol geworden. Stimmt diese Beobachtung? Und was bedeutet sie für Deutschland?

Aleida Assmann: Ja, das ist so. Der 27. Januar …

der Auschwitzgedenktag …

Assmann: … ist ja nicht nur ein deutscher Gedenktag, sondern ein europäischer. Das ist auf dem Stockholmer Regierungstreffen zum Holocaust 2000 festgelegt worden. Damit stellt sich eine neue Frage: Geht der spezifisch deutsche Standpunkt in der universalisierten Holocaust-Erinnerung unter? Man spricht zum Beispiel von einer Amerikanisierung des Holocaust. Das Modell des Holocaust-Museums kommt aus den USA, ebenso wie der Architekt des Berliner Mahnmals. Wir fragen uns ängstlich: Machen wir auch alles richtig? Die Selbstauseinandersetzung mit der deutschen Geschichte geht dabei etwas verloren.

Sie meinen, dass die Globalisierung der Holocaust-Erinnerung in Deutschland als Entlastung wirkt?

Assmann: Das ist zumindest möglich. Wenn wir die Holocaust-Erinnerung aus den USA importieren, vergessen wir dabei leicht, dass unser ganzes Land ein Denkmal ist – wie es Marianne Averbuch einmal ausgedrückt hat. Und das hat durchaus Entlastungscharakter.

Harald Welzer: Ich würde noch weiter gehen: Wir haben auf der einen Seite eine Umcodierung von Erinnerungskultur – hin zur Thematisierung des eigenen Leids. Auf der anderen Seite gibt es das monumentalisierte Gedenken, das mit der Eröffnung von Eisenmans Holocaust-Mahnmal in Berlin am 9. Mai zum Abschluss kommt. Ich finde, wir müssen beides sehr kritisch bewerten.

Warum hat die NS-Zeit so dauerhaft Konjunktur? Man kann ja kaum den Fernseher einschalten, ohne eine Dokumentation zu sehen, die sich mit der Zeit von 1933 bis 1945 befasst. Warum erreichen wir nie den Punkt: Okay, jetzt wissen wir’s, jetzt reicht’s?

Welzer: Wegen der Erfahrung von extremer Gewalt, die wirklich einzigartig war. Hinzu kommt, dass der Nationalsozialismus die Erfahrung einer Gesellschaft mit einer unglaublichen Dynamik war, die ungeheure Energien freigesetzt hat. Obwohl die nationalsozialistische Zeit nur zwölf Jahre dauerte, sagt die Überlieferung: Es war etwas Großes, Überwältigendes. Diese Faszination wird durch die kritische Kommentierung nicht gebrochen. Im Gegenteil: Auch viele dieser Aufklärungsprojekte bergen ja diesen Subtext.

Wie lautet er?

Welzer: Eben so: „Es war furchtbar, aber es war auch etwas Großes.“ Das ist ja übrigens auch eine Botschaft des Holocaust-Mahnmals. Der dritte Aspekt ist, dass die Erinnerungsobsession einhergeht mit dem Verlust an Utopien. Wenn man nicht nach vorne blicken kann, schaut man eben rückwärts.

Und was sieht man da?

Welzer: Der Nationalsozialismus bindet nach wie vor Fantasien. Er war ein historisches Projekt mit einem hohen utopischen Anteil – dass wir diese Utopie negativ bewerten, ändert daran nichts. Dieses Faszination war nie tot, sie lebt weiter. Keine Generation, auch die Achtundsechziger nicht, hat so viel erlebt. Und in der Faszination steckt ja auch drin, dass man sich ein bisschen selbst Leid tut, dass man dieses Zeit nicht miterleben durfte. Jedenfalls steht noch vieles zu begreifen aus.

Was denn?

Welzer: Wir wissen sozialpsychologisch nicht, welche Tiefenwirkung die kollektive Erfahrung extremer Gewalt hat. Deshalb sind die Prognosen so schwer. Welche Gestalt nimmt das an? Was wir wissen, ist: Es wirkt noch nach. Offenbar brauchen Gesellschaften, um damit ins Reine zu kommen, mehr als drei, vier Generationen.

Assmann: Die Frage ist also: Wie lange braucht es, bis dieses Erbe sich verflüchtigt? Das ist so schwer zu beurteilen, weil es so viele Durchlässigkeiten zwischen den Generationen, durch Übertragungsprozesse, Identifikation oder Delegation gibt. Nach meinem Eindruck ist das alles noch sehr stark verstopft. Das ist auch der Grund dafür, dass die NS-Zeit immer näher zu rücken schien. Der Lockerungs- und Ablöseprozess, den der Generationswechsel sonst mit sich bringt, hat hier nicht wirklich funktioniert.

Ein Indiz dafür war auch der Hitler-Film „Der Untergang“, der 2004 einer der erfolgreichsten deutschen Filme im Kino war. Dass Hitler zur Kinofigur wird – ist das ein Zeichen für eine größere Souveränität in der Erinnerungskultur oder für ein geschichtspolitisches Rollback?

Welzer: Der „Untergang“ zeigt den 8. Mai als Tragödie, nicht als Befreiung. Das ist schon bemerkenswert.

Assmann: Eine Tragödie kann ich nicht darin erkennen. Tragödien verhandeln das Dilemma von Freiheit und Schuld. „Der Untergang“ zieht eine Art Schlussstrich – als Versuch, sich von einem Teil der Geschichte zu verabschieden.

Warum?

Assmann: Der Film trennt sehr deutlich zwei Gruppen. Auf der einen Seite die Nazifanatiker und die Entourage von Hitler, die untergehen – auf der anderen Seite jene, die weiterleben wollen. Das sind durchweg wackere, prächtige Typen, die, wie der Arzt Ernst Günther Schenck, zupacken und Leid lindern, wo es nur geht. Mit denen identifiziert sich das Publikum, denn die reagieren plausibel. So entwirft „Der Untergang“ das Bild, dass es 1945 viele vernünftige Leute um Hitler herum gab – und die haben die neue Bundesrepublik gegründet. Die wesentliche Message lautet aber: Mit diesem Führer, der am Schluss noch das ganze Volk umbringen will, haben wir nichts mehr zu schaffen. Die Einheit von Volk und Führer wird entkoppelt. Diesen Wahnsinnigen können wir jetzt vergessen. Er hat mit der neuen Republik nichts mehr zu tun. Deshalb gehen viele irgendwie befreit von Hitler aus dem Film.

Es ist also auch ein gelungener Versuch, ein Gespenst zu bannen?

Assmann: Ja. In meiner Jugend war Hitler ein Gespenst. Der Führerbunker war eine Black Box, und ständig kursierten Gerüchte, dass Hitler in Argentinien oder sonst wo lebt. Im „Untergang“ sieht man zwar nicht, wie Hitler verbrennt – aber er ist tot, als Mythos ist er demontiert. Das ist die Aussage. Warum sollen nicht Millionen den Film sehen? Macht Ihnen das Sorgen?

Welzer: Ich denke nicht, dass Eichinger und Hirschbiegel mit Absicht ein Indoktrinierungsprogramm entwickelt haben. So schlicht gestrickt bin ich nicht. Aber: Dieser Film wäre so vor zehn Jahren so nicht gedreht worden – und er hätte niemals diesen Erfolg gehabt. Sie haben Recht, dass der „Untergang“ die Entkopplung zwischen Volk und Führer plausibel erscheinen lässt. Aber was heißt das? Doch wohl, dass Hitler weg ist – und uns nun auch keine Schuld mehr trifft. Das passt zu der Grundströmung in der Erinnerungskultur, von Dresden bis zum Zentrum gegen Vertreibungen. Die Deutschen definieren sich als leidendes Kollektiv.

Assmann: Einverstanden.

Welzer: Interessant ist zudem, dass der „Untergang“ als direkte Gegenerzählung zu Steven Spielberg „Schindlers Liste“ verstanden werden kann. Spielberg hat für „Schindlers Liste“ ja ein Art Authentizitätsdogma vertreten – eben dass sich alles so zugetragen hat wie im Kino gezeigt. Genau das hat Bernd Eichinger, der Produzent des „Untergangs“, übernommen und stoisch in jedem Interview wiederholt, dass alles so war wie im „Untergang“ inszeniert. Übrigens ist auch der Epilog ein Zitat von „Schindlers Liste“. Wir haben es also mit einer unverkennbaren Gegenerzählung zu tun – ob die Macher das bewusst oder unbewusst tun, ist zweitrangig.

Das Argument für den „Untergang“ lautet, dass Hitler als Mensch gezeigt wird, schwach, aggressiv, elend. Dass es ein Fortschritt ist, wenn wir Hitler nicht mehr als Dämon brauchen?

Welzer: Ja, sicher. Bruno Ganz zeigt Hitler als Mensch, nicht als Monster. Das bedeutet erst mal eine Entmonumentalisierung. Andererseits hat Bruno Ganz als Hitler noch Faszinationselemente. Und indiskutabel ist die Darstellung von jemandem wie Albert Speer, der so inszeniert wird, wie er sich selbst gesehen und dargestellt hat.

Welche Rolle spielt denn die Holocaust-Erinnerung sechzig Jahre nach Kriegsende generell hierzulande? Gedenken wurde in der Geschichte der Bundesrepublik ja lange mit Demokratiefähigkeit identifiziert. Stimmt diese Gleichung noch?

Assmann: Der Holocaust ist in gewisser Weise – und das meine ich nicht negativ – der Gründungsmythos unseres Landes. Die Erinnerung daran ist tief in unser Selbstbild eingeflossen. Die Verknüpfung von Demokratie und Holocaust ist aber nicht zwingend. Demokratische Werte kann man auch ohne den Holocaust legitimieren.

Welzer: Richtig. Die Überfrachtung des Erinnerns war schon immer fragwürdig. Erinnerung hat im politischen Raum eine Stellvertreterrolle gespielt. Sie war ein pädagogisches Medium, um die Leute demokratiefähig zu machen und mit liberalem Gedanken vertraut zu machen. Das war das Ziel.

War das falsch? Erinnerungspolitik war doch ein Erfolgsprojekt der Bundesrepublik.

Welzer: Ja, da stimme ich zu. Wir betreiben seit über 25 Jahren ein relativ erfolgreiches Geschichtsaufklärungsprojekt. Aber jetzt ist es höchste Zeit zu resümieren und zu fragen, ob diese Methoden noch aktuell sind. Viele Lehrer klagen, dass Schüler häufig innerlich abschalten, wenn es um Hitler geht. Und wir sehen schärfer als früher, wie ambivalent die Monumentalisierung der NS-Zeit wirkt. Zudem gibt es in den Schulen viele Migrantenkinder – und das erfordert andere, neue Zugänge. Das betrifft auch die Gedenkstättenpädagogen, die sich langsam etwas einfallen lassen müssen, um auch Migrantenkinder einzubeziehen.

Assmann: Das heißt nicht, dass wir die Geschichte jetzt ad acta legen – wir brauchen die Geschichte nicht mehr funktional, sondern einfach nur aus einem humanen Interesse an der Geschichte dieser Opfer. Dieses Interesse sind wir ihnen schuldig. Ich glaube, dass man nach sechzig Jahren die Erinnerung an die nationalsozialistische Zeit von kompakten, normativen Formen entlasten kann, dass es mehr um Teilhabe an Geschichten und Erinnerungen geht.

Das klingt ja ziemlich entspannt. Vielleicht zu entspannt, wenn man sich anschaut, dass mit der NPD zum ersten Mal seit langem eine rechtsextreme Partei in den Fokus des Interesses rückt. In welchem Zusammenhang stehen die Erfolge der NPD damit, dass in dem Erinnerungsdiskurs seit ein paar Jahren „deutsche Opfer“ ein akzeptiertes Thema sind?

Welzer: Ich halte das für zweitrangig. Die NPD-Erfolge haben mit sozialen Verhältnissen zu tun – und natürlich auch mit Ideologie. Dramatisch sind ja die NPD-Zahlen bei den Erstwählern. In Sachsen hat etwa ein Drittel der Erstwähler rechtsradikal wählt. Das ist kein Protestwählerverhalten – dem entspricht eine gelebte Teilkultur in den neuen Bundesländern. Aber nicht nur dort. Die Zahlen im Saarland waren auch sehr hoch. Was in Nordrhein-Westfalen im Mai bei den Landtagswahlen passiert, wissen wir noch nicht. Ich glaube aber, dass die NPD-Erfolge wenig mit Erinnerungspolitik zu tun haben. Sie sind kein direktes, aber ein mittelbares Ergebnis einer von vielen Jüngeren empfundenen sozialen Ausgrenzungsdrohung.

Assmann: Die Ausgegrenzten grenzen andere Ausgegrenzte aus – das ist der klassische Mechanismus.

Welzer: Ja. Die Analyse der NPD liegt eigentlich auf der Hand. Viele Junge machen die Erfahrung, nichts wert zu sein und dass die Gesellschaft sich nicht für sie interessiert. Und das ist die Realerfahrung. Auf dieser Folie sind bestimmte historische Muster, Bilder, Fantasien reaktivierbar, um diese Ausgrenzungserfahrung zu formulieren. Da greifen dann Mythen – etwa dass Hitler die Arbeitslosen von der Straße gekriegt hat, dass damals für die Jugendlichen etwas getan wurde. Aber das Primäre ist die real erlebte Ausgrenzung. Es wird sich rächen, wenn die Politik das ignoriert.

Gut – im Kern des rechtsextremen Phänomens dreht es sich um verweigerte Anerkennung. Aber dass Rechtsextreme bislang nicht im Parlament Fuß fassen konnten, lag auch an einer wirksamen Tabuisierung der Nazis, die in Sachsen nicht mehr funktioniert. Ist es also wirklich nur Zufall, dass der Aufstieg der NPD und die Entdeckung der Deutschen als Opfer gleichzeitig passiert?

Welzer: Ich kann da keinen zwingenden kausalen Zusammenhang erkennen. Ich halte das eher für eine Überschätzung der Möglichkeiten von Erinnerungspolitik. Viel eher gibt es einen Zusammenhang mit der Leitkultur nationaler Symbolik. Wenn Politiker erklären, früher zu wenig Nationalstolz gezeigt zu haben, und jetzt bekunden, dass sie auch stolz sind, Deutsche zu sein, dann geben sie dem Affen Zucker. Dann haben die rechten Jungs das Gefühl, im Recht zu sein. Bei öffentlichen Auftritten von mir kommen manchmal Neonazis. Die sehen übrigens nicht so aus, wie man sich das oft vorstellt. Die argumentieren oft mit dem Satz „Warum darf man denn nicht sagen: Ich bin stolz ein Deutscher zu sein?“. So liefert man denen noch das passende symbolische Inventar. Das halte ich für verheerend.

Assmann: Warum denn? Wenn man so einen Satz zulässt, dann können ihn die Neonazis doch nicht mehr einfordern. So kann man dem Protest die Grundlage entziehen.

Welzer: Naja, so treibt man eher den Teufel mit dem Beelzebub aus.

Assmann: Mit der Tabuisierung erreichen Sie das Gegenteil.

Welzer: Was wird denn tabuisiert? Es gibt doch nichts Ideologischeres als dieses Gerede von den Tabus und Tabubrüchen. Ich jedenfalls bin nicht scharf darauf, dass ernsthaft diskutiert wird, ob an Schulen morgens die Nationalhymne gesungen wird.

Assmann: Wichtiger finde ich die Frage, ob es eine neue Generation gibt, die ein anderes Verhältnis zu nationalen Symbolen hat und sich zum Beispiel an den Gepflogenheiten anderer Ländern orientiert. Aber wenn es bei den Rechtsextremen wirklich vorwiegend um soziale Schädigungen und Anerkennungsdefizite geht, dann kommt man dem mit Symbolen auch nicht bei.

Welzer: Genau. Das meine ich ja.

Assmann: Auf dem ideologischen Feld ist nichts zu gewinnen. Mit denen kann man sich sowieso nicht einigen. Es geht um die soziale Ausgrenzung.

Der Höhepunkt der Tage zum sechzigjährigen Ende des Krieges wird der 8. Mai. In der Geschichte der Bundesrepublik gab es lange die Debatte, ob dieser 8. Mai als Tag der Befreiung oder als Tag der Niederlage zu betrachten sei. Ein Wendepunkt Richtung Befreiung war Bundespräsident Richard von Weizsäckers berühmte Rede aus dem Jahre 1985. Ist diese Debatte endgültig entschieden?

Welzer: Auf der offiziellen Ebene der Verlautbarungen ja: der Tag der Befreiung.

Und inoffiziell?

Welzer: Schwierig zu beantworten. Wenn man die Leute befragt, bekommt man erst mal häufig die Antwort, dass der 8. Mai für sie kein besonderer Tag war. Der Krieg war ja im Westen schon früher zu Ende, für viele andere, etwa Flüchtlinge, war er noch nicht zu Ende. Aber die Frage, ob sich die normative Botschaft von der Befreiung in der Tiefenwirkung gegen die materiellen und immateriellen Verluste und Kränkungserfahrung durchgesetzt hat, das ist kaum zu beantworten.

Assmann: Ob man den Tag mit Befreiung oder Kapitulation assoziiert – das hängt sehr stark davon ab, welcher Generation man angehört. Den Jüngeren geht das Wort Befreiung leicht über die Lippen, bei den Älteren, von denen ja viele an diesem Tag in Kriegsgefangenschaft gerieten, ist das anders. Das muss man auch verstehen. Warum soll denn jemand, der am 8. Mai in Gefangenschaft geriet, heute sagen: Das war der Tag, an dem ich befreit wurde.

Und was war der 8. Mai für jene, die damals jung waren?

Assmann: Aus denen wurde in den Fünfzigerjahren die so genannte skeptische Generation. Eine Generation, der man nichts mehr vormachen konnte. Sie hatte im Mai 1945 den Sturz der nationalsozialistischen Ordnung erlebt und daraus geschlussfolgert: Nichts ist von Dauer. Die Werte sind leicht auswechselbar. Ich habe die Rede gehört, die der Soziologe Niklas Luhmann an seinem sechzigsten Geburtstag gehalten hat. Sein kritisches Verhältnis zur Moral und zu Werten ist durch dieses existenzielle Erlebnis vom Mai 1945 erschließbar, als sich die Normen umdrehten. Luhmann beschrieb es so, dass ein paar neue Kulissen auf die Bühne gestellt wurden, andere verschwanden, und ein paar Dinge blieben gleich. Der Himmel war noch da, die Bühne auch, und dann führte man ein neues Stück auf. Darum hatte er mit Moral nie mehr was am Hut. Es war für ihn alles letztlich nur ein Schauspiel.

Welzer: Die Geburt der Systemtheorie im Mai 1945 …

Assmann: Ja, das war die Antwort auf diese Art von Skepsis.

JAN FEDDERSEN, 47, ist taz.mag-Redakteur; STEFAN REINECKE, 46, ist taz-Autor. Sie trafen beide in Aleida Assmanns Haus in Konstanz