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Archiv-Artikel

Guten Morgen, liebe Sorgen

Der Marktführer RTL gibt sich ganz seiner Führungskrise hin, ARD und ZDF liegen im Clinch, Premiere geht an die Börse und Brüssel macht mobil: Zehn Thesen zur Zukunft des Fernsehens in Deutschland

von STEFFEN GRIMBERGund HANNAH PILARCZYK

Heute RTL und morgen der ganze Rest … Das Privatfernsehen hat versucht, das vorläufige Ende von New Economy nebst Spaßgesellschaft zu ignorieren („Big Boss“, „Die Burg“, „Kämpf um deine Frau“). Die sich verändernde TV-Gesellschaft macht da nicht mehr mit. Faustregel: Als kriselnd empfundene Zeiten bevorteilen traditionell das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Der Zuschauer-Trend hin zur serviceorientierten neuen Ernsthaftigkeit ebenso.

Die Ideenlosigkeit der deutschen TV-Verantwortlichen wird erst jetzt in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar … Die Me-too-Blase ist geplatzt: Internationale Ideen für den deutschen Markt zu klauen, führt immer häufiger zu Flopps. Und die Personaldecke an kreativen TV-Machern ist hierzulande ziemlich dünn.

Privatsender und Öffentlich-Rechtliche nähern sich trotzdem weiter an … Entscheidend wird nicht mehr der Systemunterschied, sondern die Differenzierung zwischen Vollprogramm und Spartenkanal, so der Medienexperte Lutz Hachmeister. Bestimmte Sendungstypen wie Telenovelas, Schmonzetten („Pilcher“), Plauder-Shows („Beckmann“) oder Popular-Science-Formate („Galileo“) entziehen sich schon heute klaren Zuordnungen wie privat vs. öffentlich-rechtlich.

Der Wettbewerb vonARD und ZDF fängt erst richtig an … Die derzeit gute Aufstellung des ZDF – vor allem im Info-Bereich – führt bei der ARD zum Programmumbau und treibt die weitere Zentralisierung und „Struvisierung“ im Ersten an. Dazu kommt der Streit um die Führung bei 3sat. Anspruchsvolleres wird noch stärker aus dem Ersten und Zweiten in die öffentlich-rechtlichen Sonderkanäle (3sat, Arte) gedrängt.

Die klassische TV-Werbung nebst ihrer willkürlichen Zielgruppe 14–49 ist tot … Das trifft vor allem die privaten Vollprogramme, da sich neue Erlösmodelle („Transaktionsfernsehen“ à la 9live, Teleshopping) nicht unbegrenzt integrieren lassen. ARD und ZDF werden langfristig zum endgültigen Ausstieg aus der Werbung gedrängt.

Die privaten Verwertungsketten reißen … Endlos rückgekoppelte Synergieeffekte (von der Show zur CD zum Magazin) sind reine Illusion – und das Ende aller Kreativität, wie im Umfeld von „Big Brother“ schon heute zu besichtigen ist. So gut war nicht mal „Deutschland sucht den Superstar“ – sondern ein selten zu wiederholender Einzelfall.

Die Digitalisierung schafft durch neue Spartenkanäle eine völlig neue TV-Landschaft … An das ZDF wurde jüngst die Idee eines „Schwarzwaldklinik-Kanals“ herangetragen. Eine weitere öffentlich-rechtliche Ausdehnung wird dabei stark von medienpolitischen Vorgaben abhängig sein. Die Verlierer sind vor allem die „mittelkleinen“ Privatsender wie RTL 2, Vox oder Kabel 1.

Das tot geglaubte Pay-TV wird die neue zweite Hälfte im deutschen Fernsehmarkt … Mit dem Börsengang von Premiere im März und weiteren Bezahlfernseh-Angeboten im Kabel verschieben sich die Verhältnisse. Pay-TV wird zum finanzstarken Konkurrenten bei Sportrechten und Top-TV-Fiction in Kinoqualität.

EU-Wettbewerbs- und -Wirtschaftspolitik bedrängen immer stärker den TV-Status-quo … Medienpolitik wird in Deutschland wieder wichtiger. Allerdings nicht als eigenständige Gestaltung, sondern als oft verspätete Reaktion auf Brüsseler Attacken (Streit um Rundfunkgebühr als Beihilfe, Online, Rundfunk als Dienstleistung).

Im Free TV gewinnen kann nur, wer die jungen ZuschauerInnen wiederentdeckt … diese haben derzeit weder bei RTL noch Sat.1 und schon gar nicht bei ARD oder ZDF eine Heimat.