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Archiv-Artikel

„Lear war nie meine Traumrolle“

Thalia-Schauspieler Markwart Müller-Elmau wusste nie, warum der König an einem Gunstbeweis scheiterte. Doch dann hat er den Alten liebgewonnen

„Das Lear‘sche Verfluchen fällt mir äußerst schwer“Alles in allem wartet man immer ein bisschen auf Godot“

von Petra Schellen

Ach ja, am liebsten auf das Sofa. Sich in die Kissen fallen lassen, einen Kaffee auf improvisiertem Hocker trinken, danach ein Nickerchen ... Aber nein, wir sind nicht im Café, auch nicht im Altenheim, sondern in den Proben zu King Lear, und im hellen Thalia-Probenraum sitzt freundlich lächelnd Markwart Müller-Elmau. Er kann sich gut vorstellen, dass Gott eines Tages müde ist: „Dass er sagt, ich hab meinen Teil getan, jetzt seid ihr mal dran.“

Ein gutmütiger, leicht eigenwilliger Gott könnte das sein, nicht ganz so jähzornig vielleicht wie Lear, den Müller-Elmau am Sonnabend in der Inszenierung von Andreas Kriegenburg am Thalia verkörpern wird – aber in der Grundempfindung ähnlich: „Er ist ein alter Mann, des Machens müde und beseelt von dem Wunsch, von der Familie getragen zu werden.“

Genau so hatte sich Lear das nämlich gedacht, als er seinen drei Töchtern sein Reich vermachen wollte; im Gegenzug wollte er die Ehrenrechte behalten. Ein ungeschriebener Vertrag, ein Axiom, auf dem sein gesamtes System beruhte und mit dessen Hilfe er jahrzehntelang ein Riesenreich regiert hatte. Umso überraschender, dass all dies an etwas marginal Privatem scheitert: an der Weigerung der jüngsten Tochter Cordelia, ihre Liebe zum Vater so eloquent zu bekunden wie die berechnenden Schwestern. Und dann wird Lear aus Schaden nicht einmal klug und irrt von Tochter zu Tochter, um schließlich bei der einst Verstoßenen zu enden.

„Lear durchschaut die älteren Töchter nicht“, räumt Müller-Elmau ein. „Wie sollte er auch? Als Herrscher hat er Menschen benutzt, ohne sie je als Individuen zu begreifen.“ Auch Lear selbst sei „aus lauter Versatzstücken zusammengesetzt. Das zeigen schon die Proben: Ich wüte. Ich fluche. Ich gehe raus. Komme wieder rein. Hole mir einen Stuhl. Und verändere mich ganz und gar nicht, scheitere immer wieder an meiner Idee von der Steuerbarkeit der Welt. Denn Lear erlebt ja immer wieder, dass seine Verfluchungen – etwas, das mir persönlich übrigens besonders fremd war – nichts bewirken.“ Logische Konsequenz also vielleicht wahnsinnig zu werden. „Wahnsinn ist für Lear das Äquivalent dieses totalen Kontroll- und Machtverlustes.“ Denn das eigentliche Problem kann Lear nicht zur Kenntnis nehmen; vielleicht wäre es zu schmerzhaft zu sehen, dass eine winzige Abweichung ein Königreich zum Einsturz bringt. Denn im Grunde ist das Elend selbstverschuldet: „Hätte Lear sein Reich nicht zu teilen versucht, wäre all dies nicht passiert.“ Und ganz vielleicht „entspricht diese Großzügigkeit auch nicht Lear; vielleicht scheitert das Unterfangen an der Unausgegorenheit seines Entschlusses“. Ganz abgesehen davon, dass Lear „der Sympathischste ja nun auch nicht ist – aber ich muss ihn ja verteidigen. Ich muss auf meine Art anfangen, ihn zu mögen“. Wie er das angesichts dieser mit Erwartungen befrachteten Rolle machen solle, habe er anfangs auch nicht gewusst: „Lear war nie meine ,Traumrolle‘ oder so etwas. Hinzu kommt, dass ich – im Vergleich zu anderen Lear-Darstellern – auf keine so lange Schauspielerlaufbahn zurückblicke.“ 30 Jahre lang hat Müller-Elmau nämlich Regie geführt, zunächst in Kassel, später in Konstanz und Ulm. Erst 1993 hat er sich für die Schauspielerei entschieden: Am Schauspiel Hannover hat Müller-Elmau mit Kriegenburg unter anderem den Sturm inszeniert. Und vage erinnert er sich, dass er vor etlichen Jahren mal selbst den ,Lear‘ inszeniert hat. Genau weiß er das nicht mehr. „Fertig war ich mit dem Stück damals jedenfalls nicht. Ich bin nie so recht damit warm geworden, weil ich nie verstanden habe, dass Lear an so etwas Schlichtem wie einem Liebesbeweis scheitern könnte.“

Viel später habe er begriffen, dass Lear für einen Archetypus stehe: „für den Vereinsamten, den Ausgelieferten, dem sogar die tobende Natur Feind ist. Der um sich selbst kreist und, einem Embryo gleich, nur das eine kennt: sein Urbedürfnis nach Geliebtwerden.“ Emotional, nicht intellektuell begreife Lear die Welt, „und eigentlich finde ich, dass ich noch nicht lange genug gelebt habe, um ihn zu spielen“, sagt der 67-Jährige.

Aber wann könnte das wohl so weit sein? Wie lange braucht man, um weise zu werden? Oder um die „Sturheit des Alters“ zu begreifen in ihrer Irrationalität? „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass diese Dinge nicht diskutierbar sind. Auch Kriegenburg führt während der Proben keine Phantomdiskussionen. Er räsoniert weder über Lears Wutausbrüche noch darüber, was passiert wäre, wenn Cordelia anders gehandelt hätte. Diese psychologischen Lecks muss man selber füllen. Ganz individuell die Grundkonstanten jeder Rolle erspüren. Und irgendwann habe ich die existenzielle Einsamkeit des Lear begriffen, die die Einsamkeit aller Schauspieler in diesem Stück ist: eine Einsamkeit, die auf der Erkenntnis beruht, dass man so wenige Möglichkeiten hat, etwas zu steuern im Leben.“

Müller-Elmau lehnt sich zurück, schaut versonnen, lächelt. „Ein bisschen erinnert mich dieses Stück an Beckett“, sagt er dann. „Denn letztlich ist die Welt grau in grau. Man versucht dies und jenes, ist mal oben, mal unten – und wartet alles in allem ein bisschen auf Godot.“ Denn letztlich gebe es keine Lösung: „Das einzige, was einem bleibt, ist Demut. Ich bin zum Beispiel dankbar dafür, dass mich meine Frau so akzeptiert, wie ich bin.“ Wie er das aber äußern sollte – das weiß er so wenig wie Lears Tochter: „Würde ich meiner Frau das sagen, könnte es zu theatralisch wirken. Wäre ich aus Dankbarkeit besonders lieb, wäre das nicht ich, der Zyniker.“ Was bleibt also übrig? Das Schweigen? Ja, vielleicht. Müller-Elmau sitzt im weichen Sofa und guckt ein bisschen ratlos wie ein Kind.

Premiere: Sa, 26.2., 20 Uhr, Thalia