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Archiv-Artikel

Blickreiche Moralerforschung, hey

Der holländische Regisseur Johan Simons hat an den Münchner Kammerspielen „Die Zehn Gebote“ inszeniert – nach Krzysztof Kieślowskis Dekalog

Er liegt flach auf dem Bauch und flüstert fast zärtlich: „Hey!“ Immer wieder, einem festen Rhythmus folgend, mitten hinein in die rasch dahererzählten Fakten eines brutalen Mordes: „Hey!“, „Hey!“ Der da flüstert, das ist Jacek, der Mörder. Vor ihm auf dem Boden liegt Waldemar Rybkowski, das Opfer.

Einfach so, ausgestreckt und entspannt. Kein Blut, keine Gewalt weit und breit. Nur die emotionslos vorgetragenen Worte, die von der um den Hals sich festzurrenden Schnur handeln, vom ewigen Nicht-sterben-Wollen und dem halben Wurstbrot im Handschuhfach des toten Taxifahrers, das sein Mörder nach der Tat ungerührt isst.

Dann singen Jacek (Paul Herwig) und der Erzähler (Stephan Bissmeier) leise ein hübsches Kinderlied. Bis die Worte weiter schnarrend die Hinrichtung beschreiben. Ebenso detailreich, ebenso grausam: eine Sünde als Strafe für eine andere.

Ende der Achtzigerjahre, als Krzysztof Kieślowskis „Kurzer Film über das Töten“ in die Kinos kam, gab es das alles zu sehen. In quälender Länge und mit buchhalterischer Genauigkeit machte Kieślowski das Sterben zum Protagonisten. Doch seine symbolgeladene Bildsprache hob die Erzählung weit über das bloß Dokumentarische hinaus. Sie machte Eindruck, stellte Fragen und behauptete Interdependenzen – in allen zehn Filmen seines „Dekalog“-Zyklus: der Zahn, den das Baby bekommt, als ihn der Großvater verliert. Der Tintenfaden auf dem Schreibtisch und der tödliche Riss im Eis …

Dass an den Münchner Kammerspielen, wo sich das Theater nun erstmals mit dem Stoff befasst, ein strenges Bilderverbot herrscht, ist konsequent. Die Bühne müsste sonst wie schon so oft weit hinter dem Film zurückbleiben. Im Einheitsbühnenbild von Bert Neumann agieren elf Schauspieler als Hilfstrupp des jeweiligen Erzählers (neben Bissmeier auch André Jung), der ihren Erinnerungen auf die Sprünge hilft, sich um sie sorgt und sich über sie ärgert. Und auch die Figuren selbst sind ziemlich von der Rolle. Sie beschreiben ihre Tränen oder vergewissern sich noch rasch über den Fortgang „ihrer“ Geschichte: Und die scheint das An- und Ausprobieren von Gesetz und Moral als Gelegenheitsjob für die Randständigen der Gesellschaft zu offerieren.

In Kieślowskis Filmen ist der Ort aller Handlungen eine polnische Hochhaussiedlung, in München gleicht die Bühne einem postsozialistischen Möbellager voller Resopal in allen Kunstholztönen. Über den Köpfen und Geschichten martert Licht aus hunderten von Neonröhren Darsteller wie Betrachter. Da gibt es kein Drumherummogeln: Was die Frage nach den ehernen Gesetzen des menschlichen Zusammenlebens betrifft, sitzen wir alle im selben Boot. „Das Leben, das ist doch so, wie wir sind?“, sagt der Junge Tomek im Dekalog 6. Aber sind die biblischen Gesetze wirklich noch so ehern?

In „Die Zehn Gebote“ reißt Johan Simons diese Frage zwar an, bietet aber keine Antwort. Der künstlerische Direktor des ZT Hollandia, der gegenwärtig von München und Zürich aus dem deutschsprachigen Schauspiel zu seinen Highlights verhilft, begreift das Theater als Denkraum, in dem der Zustand der Welt auf dem Prüfstand steht. Hier sind es die unabsehbaren Folgen unserer Entscheidungen: Da ist der Wissenschaftler, der seinen Sohn in den Tod auf dem Eis schickt, weil er dessen Tragfähigkeit zuvor bewiesen hat (Dekalog 1). Da ist der Arzt, der ein Ungeborenes mit einer Lüge rettet (Dekalog 2), der impotente Ehemann mit seinem zerstörerischen Misstrauen (Dekalog 9) oder der verliebte Voyeur und die Frau, die ihm seine Ideale austreibt (Dekalog 6). All diese Geschichten sind moralisch ambivalent, alle beschreiben sie den Raum zwischen Theorie und Praxis, Glauben und Handeln, stellen brutalstmöglich die Gewissheit des Scheiterns vor uns hin. Und zeigen, dass wir dabei, sicherer als irgendwann sonst, von allen gesehen werden.

Blicke, schon bei Kieslowski enorm wichtig, sind das dominante Element in Simons’ Inszenierung. An einem Tisch in der hintersten Ecke der Bühne sitzen die Schauspieler, die gerade nichts zu tun haben. Sie schauen zu, wie von Tod und Verrat erzählt wird, kontrollieren und verteilen Sympathie via Augenkontakt.

Die Fehler machen (vorerst) nur die anderen. Zum Beispiel die Zuschauer, die ihren Augen trauen: Simons lässt die falsche Frau zur richtigen Zeit an einer prominenten Stelle der Bühne stehen, schauen, lächeln. Und weil wir sie sehen, halten wir sie natürlich für diejenige, von der die Rede ist. Doch nichts ist so, wie es scheint. Bei der Erforschung der Moral zählt allein die Tat und nicht der Täter. Zweifellos: Dieser Abend ist anstrengend und spannend, beklemmend und komisch zugleich. Weil meistens das Timing stimmt, die Dramaturgie der Blicke und der Rhythmus zwischen Darstellen und Erzählen.

Doch das Eis ist dünn: Während es noch in einem arbeitet, geht schon die eine Geschichte in die nächste über, verhindert wie die in den Abspann einbrechende Fernsehwerbung jedes Nachdenken und jedes Nachklingenlassen von Gefühl. An den Rändern dieser packenden Spurensuche lauert: die Kälte.

SABINE LEUCHT