: Verteilte Rollen reichen nicht
Um Länder wie den Iran von einer nuklearen Bewaffnung abzuhalten, verhandelt die EU, während Europa-Besucher Bush droht. Doch diese Doppelstrategie ist fehlerhaft
Condoleezza Rice machte den Anfang. Ihr folgte ein brillant selbstironischer Donald Rumsfeld. Nun ist der Präsident selbst in Europa, um eine beispiellose diplomatische Charmeoffensive abzuschließen. Vordergründig versöhnt verkündete er schon vorab, man müsse nur die „Differenzen der Vergangenheit“ hinter sich lassen, dann könne man „große Ziele erreichen“.
Das klingt harmlos, nach bedauerlichen Missverständnissen. Doch der Streit um den Irakkrieg war kein Betriebsunfall, wie auch der Krieg selbst keinen Ausrutscher, keinen launigen Ausraster eines wild gewordenen Präsidenten darstellte. Er war Teil einer kühl kalkulierten Langzeitstrategie, die weder die neue Außenministerin Rice noch der altneue Verteidigungsminister Rumsfeld noch Bush selbst zu revidieren bereit sind.
Der Ton ist nun wieder zivilisiert. Das ist angenehm. Frankreich soll nicht mehr – wie von Rice einst empfohlen – bestraft, Deutschland nicht mehr ignoriert werden. Aber künftige Felder für Konflikte sind längst absehbar. Und es wird davon nicht weniger, sondern mehr geben.
Im Kern geht es um drei Fragen, von deren Beantwortung die Weltpolitik der kommenden Jahre bestimmt wird – innerhalb der Nato, aber auch darüber hinaus. Zuallererst geht es darum, mit welchen Mitteln eine Regierung für Veränderungen in Richtung Demokratie eintreten kann, ohne dabei ihren Handlungsspielraum aufzugeben.
Dabei geht es um mehr als die arg angeschlagene Glaubwürdigkeit der derzeitigen US-Regierung in ihrem Umgang mit Menschenrechten. Es geht um ein grundsätzliches außenpolitisches Dilemma, das nicht erst seit Bush junior besteht. Denn auch während der Ost-West-Konfrontation mangelte es nicht an wortgewaltigen Weltbefreiern, die aber – sieht man von der Option einer militärischen Entscheidungsschlacht ab – keine Strategien zur Demokratisierung anzubieten hatten.
Die Alternative – die Zusammenarbeit mit ungeliebten, ja verachteten Gegnern – klang damals wenig heldenhaft, und so ist es bis heute geblieben. Doch nur so konnten die Spielräume für die großen Veränderungen der letzten Jahrzehnte geschaffen werden. Ohne die von Willy Brandt vorangetriebene Entspannungspolitik und die dadurch mögliche Kommunikation zwischen den hochgerüsteten Lagern hätten es osteuropäische Dissidenten weitaus schwerer gehabt, eine friedliche Transformation einzuleiten. Und ohne den expliziten Gewaltverzicht des Westens wäre es den Regierenden der autoritären Systeme schwerer gefallen, auf die Umbrüche besonnen zu reagieren.
Die Erkenntnis, dass Gewaltverzicht und pragmatische Anerkennung der bestehenden Machtverhältnisse die notwendige Arbeitsgrundlage für Transformationsprozesse sind, bereitete auch den damaligen politischen Akteuren keine Freude. Die Idee, Wandel durch Annäherung zu erreichen, entstand nicht ganz freiwillig, sondern unter dem Druck der realen Gefahr eines Atomkriegs in Europa.
Diese Begrenzung der militärischen Macht durch die Existenz der Atombombe ist aber nicht historisch überholt. Die Politik der nuklearen Ambivalenz, wie sie Nordkorea seit mehr als einem Jahrzehnt betreibt, zeigt deutlich, dass die Regeln des Atomzeitalters weiter gelten. Ausgerechnet gegenüber dem Staat, der sich in Sachen Menschenverachtung kaum übertrumpfen lässt, versagt eben jedes trendige Gerede von militärischen Interventionen: auch und vor allem wegen dessen atomaren Kapazität.
Dies führt zum zweiten Punkt, um den eine grundlegende transatlantische Debatte nicht herumkommen wird. Es geht um die Frage, inwieweit die USA und ihre Verbündeten anerkennen, dass eigene militärische Drohungen und Machtdemonstrationen kontraproduktive Reaktionen hervorrufen können. Es gilt, Rückschläge zu bedenken, es gilt, in Prozessen zu denken. Zudem ist die Sicht naiv, ausgerechnet von den größten in der Nato verbündeten Militärmächten gehe keine Bedrohung aus.
Dies zeigt auch die aktuelle Krise um das iranische Atomprogramm. Ohne einen expliziten Gewaltverzicht seitens der US-Regierung sind Fortschritte bei den Verhandlungen mit Teheran kaum denkbar. Doch vor einem solchen Schritt müsste Washington einsehen, dass es für den Iran rationale Gründe gibt, eine Atomwaffenfähigkeit anzustreben, solange die USA die militärische Abschaffung des dortigen Regimes anstreben. Auch hier sei ein Verweis auf vergangene Zeiten gestattet: Iran und Nordkorea kopieren nichts anderes als die Doktrin der Nato im Kalten Krieg. Die Stationierung von Atomwaffen in Europa wurde stets mit der Notwendigkeit begründet, eine Unterlegenheit des Westens bei Panzertruppen und anderen nichtnuklearen Einheiten auszugleichen.
Deshalb reicht es nicht aus, im Zuge der neuen transatlantischen Einheit von verteilten Rollen zu sprechen: hier drohende USA, dort verhandelnde EU. Denn diese so weise klingende Formel drückt sich an der Erkenntnis vorbei, dass eine Regierung nicht zur Aufgabe eines Waffensystems zu bewegen ist, wenn gleichzeitig die militärische Bedrohung von außen noch verstärkt wird. Die USA wie ihre Verbündeten in Nato und EU müssen sich entscheiden: Militärische Regimewechselträume und Totrüstungsfantasien vertragen sich nicht mit Abrüstungsverhandlungen. Im Kalten Krieg war dies nicht anders.
Dies führt zum dritten Konfliktpunkt, den eine transatlantischen Debatte nicht ausklammern kann. Kern jeder künftigen Auseinandersetzung um den Umgang mit neuen Atomwaffenstaaten wird die Frage sein, ob das Problem die Waffen selbst sind – oder nur einige ihrer Besitzer. Nicht erst unter Bush junior, schon mit der unter Bill Clinton 1993 formulierten Counterproliferations-Strategie, die ein militärisches Vorgehen gegen neue Atommächte erlaubt, wurde die wichtigste Behauptung der US-Waffenlobby auf die Ebene der internationalen Politik übertragen, dass nicht Waffen töten, sondern Menschen. Logische Konsequenz war eine Abkehr von allgemeinen Normen hin zu einer selektiven Bekämpfung einzelner Staaten, die von den USA als „Schurken“ bezeichnet wurden, in deren Händen Washington keine Atomwaffen sehen wolle.
Über diese drei Fragen müssen die USA und ihre Verbündeten streiten. Der unter Bush extrem ausgeprägte missionarische Eifer und das gigantische militärische Potenzial der USA lassen wenig Hoffnung auf eine Annäherung. Ausgeschlossen ist sie dennoch nicht.
Schon einmal, mitten im Kalten Krieg, setzte sich die Einsicht durch, dass Atomwaffen die militärische Handlungsfähigkeit selbst unumstrittener Großmächte einschränken. Durch einen kultivierten Streit kann Europa zu einer Weiterverbreitung dieser Erkenntnis beitragen. Denn es geht eben nicht um „Differenzen der Vergangenheit“. Es geht um den zu befürchtenden Weg in weitere Kriege, die alles, was im Irak passiert ist, eines Tages als harmlos erscheinen lassen könnten. ERIC CHAUVISTRÉ