Gefangen hinter Sicherheitstüren

Wenn die Ärztin Patientin wird, verschieben sich Perspektiven: Die Psychiatrieerfahrungen einer Psychiaterin, geprägt von Entwürdigung und Zwang

„Tausende Menschen werden jedes Jahr zu Unrecht in die Psychiatrie eingewiesen“

VON MIRIAM BUNJES

Manchmal hat Katharina Künkele* Angst, wenn sie in ihrer Mittagspause laut gelacht hat. „Wenn ich mich auffällig verhalte, lande ich ganz schnell wieder im Bau“, sagt sie und nimmt einen tiefen Zigarettenzug. Der Klinikalltag einer Psychiaterin, die hin und wieder auch hinter den verschlossenen Türen einspringt, erlaubt keine persönlichen Ängste. Aber Zweifel. „Die meisten meiner Kollegen zweifeln viel zu wenig an dem was sie tun“, sagt die Ärztin. „Das ist gefährlich in unserem Beruf.“

Die Geschichte von Katharina Künkeles Zweifeln ist lang, verwickelt und schmerzhaft. Deshalb zittern die Hände der schlanken 50-Jährigen leicht, wenn sie in der dicken Akte blättert. Ihrer Patientenakte.

Damals, im Januar 1999, war das anders. Da redete die Ärtzin aus dem Ruhrgebiet plötzlich doppelt so schnell, dachte zu viele Gedanken gleichzeitig, um dann stundenlang erschöpft auf dem Wohnzimmersofa zu liegen.

Oder mit ihrem Mann zu streiten. „Dadurch, dass ich meistens aufgedreht und gereizt war, eskalierte unser Zoff täglich mehr“, sagt Katharina Künkele. Ihr Mann organisiert schließlich hinter ihrem Rücken einen Termin in einer psychiatrischen Klinik im Umland. „Plötzlich stand draußen ein Krankentransport“, erinnert sich die Psychiaterin. „Ich war völlig überrumpelt, fuhr aber zähneknirschend mit. Mir war ja damals auch klar, dass es mir psychisch nicht gut ging.“

Der Psychiater findet seine Kollegin nicht sonderlich verrückt. „Sie haben in erster Linie eine Ehekrise“, sagt er zu ihr und überweist sie mit der Diagnose „manische Belastungsstörung“ in eine auf psychosomatische Erkrankungen spezialisierte Klinik ins Rheinland. Sie nimmt Medikamente, fühlt sich schnell besser. „Dann sollte ich mehr Medikamente nehmen“, sagt die Ärztin. „Als ich das nicht wollte, wurde ich von einer Minute auf die andere entlassen.“ Im Entlassungsbrief steht später: „Die Patientin weigert sich, ihre Medikamente einzunehmen“. Die Laborwerte beweisen das Gegenteil.

Zuhause geht der Ehestreit weiter, sie fühlt sich nach wenigen Tagen genauso schlecht wie vorher. Freunde überreden sie, sich in eine psychiatrische Klinik – diesmal in Köln – einweisen zu lassen. Zu ihrer Überraschung ist ihre Diagnose längst dort. „Über die ärztliche Schweigepflicht hat man sich einfach hinweggesetzt“, sagt Katharina Künkele.

Sie beginnt trotzdem mit einer Therapie, weil sie sich krank fühlt. Auf der geschlossenen Station. „Ich hatte keine Angst davor. Als Psychiaterin wusste ich, dass eine geschlossene Station eigentlich nichts Schlimmes ist.“

Vier Tage später ist sie nicht mehr freiwillig dort. „Nach einem ausführlichen Gespräch mit meinem Mann sagte der Arzt zu mir: „Wenn Sie dieses Medikament jetzt nicht nehmen, mache ich ihnen eine PsychKG.“

Diese Drohung mit der PsychKG – wie eine Zwangseinweisung nach Psychisch-Krankengesetz im Fachslang genannt wird – sind Alltag in der nordrhein-westfälischen Psychiatrie, sagt Matthias Seibt vom Landesverband Psychiatrieerfahrener. „Das glaubt einem aber kein Mensch, wenn man da mit seiner schwerwiegenden Diagnose vor dem Richter sitzt.“

In der Begründung für Künkeles Einweisung steht sowieso etwas anders: „Drohende Verschlechterung durch Behandlungsverweigerung.“ Auch kein ausreichender Grund für eine Psych-KG. „Um einen derartigen Eingriff in die Menschenrechte zu rechtfertigen, müssen die Erkrankten schon akut gefährlich sein – körperlich aggressiv anderen gegenüber oder Selbstmord gefährdet zum Beispiel“, sagt Georg Bruns, Verfasser einer der wenigen psychiatrischen Studien zum Thema. „Selbst- oder fremdgefährdend“ heißt es im Gesetz – das bei einem Drittel aller Einweisungen unterschiedlich ausgelegt würde, so Bruns. „Tausende Menschen werden jährlich zu Unrecht eingewiesen.“

Innerhalb von einem Tag überprüfen Amtsrichter den Einweisungsbeschluss. „Das Gutachten der Ärzte wird aber fast nie in Frage gestellt“, sagt Georg Bruns.

Auch Katharina Künkele muss jetzt wohl oder übel die Medikamente schlucken. „Mir ging es dadurch zumindest kurzfristig auch besser“, sagt sie. Sie hört auf, mit den Ärzten zu streiten, will noch einmal von vorne anfangen. „Die Zwangseinweisung tat ich als individuellen Ausrutscher ab.“ Drei Wochen später wird sie entlassen, fängt wieder an, zu arbeiten. Das Medikament schluckt sie weiter, sogar ein halbes Jahr länger als verordnet. „Ich bin keine Medikamentengegnerin.“

Es wird ein schwieriges Jahr. Die Kollegen gehen auf Distanz, die durch die anhaltenden Streits zermürbte Psychiaterin wirft ihren Mann raus, lässt die Schlösser austauschen, sperrt das gemeinsame Konto. Als sie das Medikament absetzt, bekommt sie einen Rückfall. Sie geht zurück in die Kölner Klinik. Aufgrund Aussagen Dritter müsse sie in die geschlossene Abteilung, sagt man ihr dort nach wenigen Tagen. „Da wusste ich: Meine Ehe war endgültig kaputt.“ Katharina Künkele setzt sich in den Stationsgarten und wartet auf ihren Mann, mit dem sie ein letztes Mal über alles sprechen will. Er kommt nicht. Dafür irgendwann der nachtdiensthabende Arzt. Katharina Künkele will bis Mitternacht im Garten auf ihren Gatten warten, weigert sich, in ihr Zimmer zu gehen, weint. „Gefährdet die Rechtsgüter ihres Mannes, sperrt Konten, tauscht Schlösser aus“, steht in der Zwangseinweisung, unterschrieben von einer Ärztin, die schon längst im Feierabend ist.

Eine illegale Zwangseinweisung, wie acht Wochen nach ihrem sofort eingereichten Widerspruch das Landgericht Köln feststellt. „Ehestreitigkeiten haben nichts mit dem PsychKG zu tun“, schreiben die Richter. Noch während sie schreiben, hat Katharina Künkele das nächste Zwangserlebnis. Obwohl sie nach der richterlichen Anhörung in ein ostwestfälisches Krankenhaus ihrer Wahl verlegt wurde: Als sie ein bestimmtes Medikament nicht einnehmen will, wird sie auch dort zwangsweise auf die geschlossene Station eingewiesen. Begründung: „Sie will sich nicht behandeln lassen und gefährdet sich durch Chronifizierung.“ „Ich wusste, dass das Medikament noch nicht ausgiebig erforscht war“, sagt sie.

Nach drei Wochen kommt sie auf die offene Station. Sie erfährt, dass die behandelnde Ärztin ein Betreuungsverfahren angeregt hat. Erschreckt flieht sie aus der Klinik, taucht für zwei Monate auf einem alten Bauernhof unter und engagiert einen Rechtsanwalt. Ihre Angst vor der Entmündigung hat sie inzwischen verloren. „Ich hatte jetzt mehrere Monate ohne Rückfall überstanden. Das Gutachten konnte nur noch positiv ausfallen“, sagt die Ärztin. „Ohne meine Flucht hätte ich keine Chance gehabt.“ Denn die Gutachterin ist dieselbe Ärztin, die das Betreuungsverfahren angeregt hat.

„Wenn Sie das Medikament nicht nehmen, mach ich Ihnen eine PsychKG“

Ein übliches Vorgehen in nordrhein-westfälischen Gerichten. „Ist doch auch sinnvoll“, sagt der Dortmunder Richter Reinhard Kokoska. „Die behandelnden Ärzte kennen ihre Patienten schließlich am besten.“ Dass das Ergebnis der Begutachtung, die mit etwa 50 Euro pro Arbeitsstunde honoriert wird, eigentlich schon vorher feststeht, glaubt Kokoska nicht. „Wir können uns da schon auf die Ärzte verlassen“, sagt der Richter. Außerdem würden die Betroffenen ja auch von den Richtern angehört. Wenn jemand einen anderen Gutachter fordere, geben man dem natürlich statt. „Die meisten Anregungen von klinischen Psychiatern sind jedoch gerechtfertigt“, sagt der Richter.

„So gut wie jede Zwangseinweisung kommt durch“, sagt Katharina Künkele. „Es liegt also einzig und allein in unserem Ermessen, ob sie sein muss.“ Sie stellt inzwischen jeden Zwang in Frage, denn noch heute bricht ihre Stimme, wenn sie sagt: „Ich habe mich so derartig ausgeliefert gefühlt. Aber wenn ich das gesagt habe, wurde das nur als Teil meiner Krankheit gesehen.“

Natürlich gebe es gefährliche psychisch Kranke. Aber auch die könne man manchmal ohne Zwang zu einer Therapie überreden. Und wenn nicht? Sie seufzt. „Ich bin froh, dass ich nicht täglich solche Entscheidungen treffen muss.“ Viele ihrer Kollegen hätten jedoch nicht die Geduld, sich den Zweifeln zu stellen. „Sie glauben ja in der Regel nicht, dass Zwang schadet.“

Eine Glaubensfrage ist die Zwangseinweisung offenbar tatsächlich. Mehr als 30.000 Zwangseinweisungen wurden 2003 bei nordrhein-westfälischen Gerichten beantragt. Die regionalen Unterschiede sind enorm: 1.200 Einweisungen allein nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz verzeichnet im vergangenen Jahr das Amtsgericht Dortmund, zu dessen Bezirk auch der Kreis Unna gehört. In Herne gab es im gleichen Jahr 64 – nach Psychisch-Kranken-Gesetz und Betreuungsrecht. „Wir versuchen mit allen Mitteln Gewalt in der Psychiatrie zu verhindern“, sagt Matthias Krisor, Chefarzt der St. Marien Hospitals – Hernes Psychiatrie. Eine geschlossene Station gibt es hier nicht, die Zwangseingewiesenen werden auf verschiedene Stationen verteilt, um die Probleme nicht zu kumulieren. „Wenn jemand seine Medikamente nicht nehmen will, versuchen wir es erstmal ohne – oft brauchen die Patienten auch einfach Ruhe“, sagt Krisor. Um die gewaltfreie Psychiatrie zu kontrollieren, gibt es auf jeder Station von den Patienten gewählte Vertreter. Die Philosophie ist auch bei den städtischen Ordnungsbehörden und dem sozialpsychiatrischen Dienst Konsens – mehr Selbstmorde oder tätliche Angriffe durch psychisch Kranke gibt es in der Ruhrkommune nicht.

Katharina Künkele hat Rückfälle in ihre Lebensplanung einkalkuliert. Welche Medikamente sie nehmen will, wer über eine Einweisung entscheiden soll, wenn sie es nicht mehr kann – all das hat sie in einer Patientenverfügung verschriftlicht. „Ich hoffe, dass ich nie wieder derart entwürdigt werde“ sagt sie. Bis dahin will sie weiter Zweifel säen.

* Name von der Redaktion geändert.