: „Sprechen Sie mit den Jungs!“
Seit Oktober wurden fünf Frauen im Namen der Ehre ermordet. Warum gibt es keinen Aufschrei in der türkischen Community? Ein Gespräch über Tradition, Zwangsheirat, fehlende positive Vorbilder und überkommene Frauenrollen, den Einfluss der Imame und den falschen Druck der Deutschen
Moderation SABINE AM ORDE
taz: Seit Oktober sind in Berlin fünf Frauen ermordet worden, weil sie sich anders verhalten haben, als ihre Männer oder ihre Familien es wollten: Sie haben sich getrennt, das Kopftuch abgelegt, sind ausgegangen. Dafür wurden sie – im Namen der Ehre – mit dem Tod bestraft. Warum gibt es keinen Aufschrei in der türkischen Community?
Hüseyin Midik: Ich weiß nicht, ob es in allen fünf Fällen um Ehre ging. Wenn das so war, wurde die Ehre missbraucht. Ehre hat etwas mit Anstand, mit Moral und Werten zu tun. Niemand hat das Recht, anderen zu drohen oder gar etwas anzutun, weil sie sich nicht an seine Moral halten. Das steht nach unserer Religion niemandem zu.
Warum macht Ditib nichts dagegen?
Midik: Wir machen nicht nichts. Von unseren Imamen sind im vergangenen Jahr überall in Deutschland zwei Predigten verlesen worden, die deutlich gemacht haben, dass das Leben des anderen in jedem Fall geachtet werden muss. Das ist unsere Verpflichtung als Muslime.
Herr Kesici, was tut die Islamische Föderation?
Burhan Kesici: Wir sprechen über den Wert des Lebens. Wer einen Menschen umbringt, hat nach unserem Glauben die ganze Menschheit umgebracht.
Gilt das auch für eine Frau, die nicht nach strengen islamischen Regeln leben will?
Kesici: Wir differenzieren da nicht. Mord ist Mord. Aber die Leute, um die es hier geht, stehen meist nicht in Kontakt zu Moscheegemeinden. Bei familiären Problemen steht nicht die Religion, sondern die Kultur im Vordergrund. Wenn man nicht mehr auf die Straße gehen kann, wenn weggeguckt wird, weil man die Ehre nicht bereinigt hat, dann muss man das hinnehmen. Das muss vor allem das familiäre Umfeld klar machen.
Seyran Ates: Das reicht doch nicht. Wir müssen hinschauen, was es für Werte und für einen Ehrbegriff bei uns gibt. Aus unserer Community passieren diese Morde! Letzte Woche war eine Mandantin bei mir, die unser Büro bei ihrer Scheidung vor drei Jahren vertreten hat. Der Mann hatte eine neue Frau. Die ist jetzt weg. Nun meint er: Du bist noch immer meine Frau, ich lasse nicht zu, dass du einem anderen gehörst. Wenn du zu einem anderen gehst, werde ich dich töten. Das begründet er mit der Ehre.
Midik: Hier können wir eine gemeinsame Grundlage finden: Es geht nicht um Ehre und es hat keinen religiösen Hintergrund.
Ates: Dieser Mann hört nicht auf den Hodscha (Vorbeter; die Red.), das stimmt. Er hört aber auf seine Eltern. Die sagen: Du hast doch Frau und Kinder, warum gehst du nicht zu denen zurück? Und auf diese Eltern haben Sie Einfluss! Durch Ihre Predigten erreichen Sie einen großen Teil der älteren Generation; Sie erreichen die Männer, die einen bestimmten Ehrbegriff haben und ihn den jüngeren vorleben. Wenn zehnjährige Hosenscheißer sagen, meine Schwester ist meine Ehre, dann haben sie das aus ihrer Familie. Das Gleiche gilt für die Neuköllner Schüler, die den Mord an Hatun S. begrüßt haben.
Safter Cinar: Es reicht nicht zu sagen: Töten ist schlecht. Die religiösen Organisationen müssen über die Stellung der Frau reden! Wir haben in unserer Community ein Problem damit, was Frauen dürfen und was nicht. Das ist der zentrale Punkt.
Warum wird nicht getan?
Cinar: Es ist schwierig, ein Problem in der eigenen Community anzusprechen. Es besteht die Gefahr, dass die Mehrheitsgesellschaft das gegen uns wendet. Dann wird wieder über die Türken als solche geredet, über die türkischen Gene und nicht über das eigentliche Problem. Wichtig ist auch, dass diese Vorstellung von Ehre über Jahrhunderte entstanden ist. In der Türkei gab es bis zum letzten Jahr eine Strafmilderung bei Ehrenmorden.
Ates: Das steckt seit Jahrzehnten in den Köpfen. Und um das zu ändern, brauchen wir die Unterstützung Ihrer Organisationen. Rechtsanwältinnen und Sozialarbeiterinnen können Feuerwehrfunktionen erfüllen, aber wir müssen einen größeren Entwicklungsprozess in Gang setzen. Dafür brauchen wir Vorbilder. Die Jugendlichen sollten bestimmte Werte nicht von der Mehrheitsgesellschaft auferlegt bekommen, sondern unsere Männer müssen ihnen sagen: Das sind auch unsere Werte! Es geht um die Position der Frau.
Kesici: Damit gibt es in der islamischen Community doch keine Probleme. Hier geht es um eine Frage der sozialen Schichtung und der Bildung. Die Frau hat innerhalb des Islams und bei den Muslimen eigentlich eine relativ hohe Stellung …
Ates: Das ist ein Mythos.
Cinar: Die Stellung der Frau ist das zentrale Problem. Solange Frauen als Eigentum begriffen werden, solange Frauen kein Recht auf ein eigenständiges Leben zugesprochen wird, so lange wird sich nichts ändern. Das Problem fängt an, wenn bestimmte Organisationen Eltern Befreiungsanträge vom Schwimmunterricht oder vom Biologieunterricht in die Hand drücken. Damit legt man den Grundstein für die Missachtung der Frau. Ditib hat sich da offen positioniert, andere Organisationen haben das nicht.
Jetzt ist die Islamische Föderation angesprochen.
Kesici: Wir unterstützen Eltern nicht dabei, ihre Töchter abzumelden. Aber wir achten auf bestimmte Werte.
Was heißt das konkret, zum Beispiel bei Sexualkunde?
Kesici: Wir raten den Eltern, bei den Elternabenden die Unterrichtsinhalte zur Sprache zu bringen. Aber hier geht es doch um ein gesamtgesellschaftliches Problem. Man muss den Menschen das Gefühl geben, dass sie hierher gehören. Die, die sich hier angenommen fühlen, verändern sich auch. Andererseits werden auch bestimmte Klischees angenommen. Wenn zum Beispiel muslimische Jungs immer wieder hören, muslimische Jungs benehmen sich wie Machos, dann machen sie das irgendwann auch.
Das ist doch nicht nur eine Reaktion auf die Mehrheitsgesellschaft.
Kesici: Es gibt mehrere Faktoren.
Ates: Die Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft dürfen wir aber nicht runterspielen. Da sagt eine deutsche Sozialarbeiterin einem 16-jährigen Mädchen, das von Zwangsheirat betroffen ist und plötzlich ein Kopftuch tragen muss: So ist das eben in eurer Kultur. Das ist kein Einzelfall. Unsere Männer geben diese Werte weiter, und ein Teil der Deutschen flankiert sie dabei.
Kesici: Generell haben wir derzeit einen Wildwuchs von religiösen und kulturellen Werten. Wir sind damit überfordert und wissen nicht, wohin das geht. Wir sehen, dass wir bestimmte Werte seit Jahrzehnten vermitteln und trotzdem alle tun, was sie für richtig halten.
Midik: Das Problem ist doch Folgendes: Die Leute haben eine eigene Vorstellung von ihrer Religion, und die hat nicht unbedingt etwas mit unserem Selbstverständnis zu tun. Das besagt bei Ditib: Im Islam gibt es keinen Zwang. Keinen Zwang, ein Kopftuch zu tragen, keinen Zwang zu fasten und so weiter. Religion muss als etwas Positives, etwas Sinnstiftendes begriffen werden.
Kesici: Ein Beispiel aus dem Religionsunterricht: Da sollte sich ein Mädchen, weil es gestört hat, neben einen Jungen setzen. Das Mädchen hat gesagt, das darf ich nicht, das ist im Islam nicht erlaubt. Ich habe ihr erklärt, dass das nicht der Fall ist. Später hat sie sich dann mit einem Jungen geprügelt. Da habe ich sie gefragt: Und das darfst du? Damit will ich sagen: Da geht viel durcheinander bei den Kindern. Auch bei den deutschen Kindern.
Ates: Natürlich hat auch die deutsche Gesellschaft Probleme mit einem patriarchalen System. Aber die türkischen Mädchen haben ganz andere Probleme. Viele 15-Jährige müssen sich damit auseinander setzen, dass sie bald heiraten sollen, womöglich ihren Cousin. Sie haben keine Möglichkeit, sich frei zu entfalten, sie werden in eine Rolle gedrängt. Frankreich zeigt, wie sich das zuspitzen kann. In den Vorstädten gibt es Massenvergewaltigungen an muslimischen Mädchen, weil sie sich falsch kleiden. Darüber müssen wir Tacheles reden.
Reden Sie in Ihren Organisationen über Frauenrollen, Sexualität, Zwangsheirat?
Midik: Wir klären die Leute, die zu uns kommen, über ihre eigene Religion auf. Die meisten erreicht man beim Freitagsgebet, da kommen viele eine halbe Stunde vor dem Gebet. Da hat der Imam die Gelegenheit, solche Themen aufzugreifen.
Greifen Ihre Imame auch den Mord an Hatun S. auf?
Midik: Wir hatten diese zwei Predigten. Aber ich weiß auch nicht, wie wir den letzten Menschen erreichen sollen, damit so etwas nicht passiert.
Kesici: Vor 10, 15 Jahren lag das Heiratsalter der türkischen Kinder noch bei 16, 17 Jahren. Es ist jetzt höher. Das liegt auch daran, dass es viele Scheidungen gibt. Dass die Leute gesehen haben, was Zwangsheiraten anrichten.
Wie agiert die Islamische Föderation bei diesen Fragen?
Kesici: Wir machen den Leuten klar, dass diese Ehen nicht lange halten, dass die jungen Leute nach den Scheidungen große Probleme haben, dass die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern belastet werden. Meist sagen wir: Lass sie die Ausbildung zu Ende machen.
Darf sie sich danach ihren Mann selbst aussuchen?
Kesici: Inzwischen zum größten Teil schon. Es gibt zwar viele arrangierte Heiraten, aber es ist gang und gäbe, dass das Mädchen selbst entscheidet. Wir haben auch ein Plakat gegen Zwangsheirat gemacht, das wollen wir jetzt in die Gemeinden tragen. Ein Problem dabei ist, dass viele über Ehe- und Familienprobleme nicht reden.
Ates: Man redet nicht über die Ehe, nicht über Sexualität. Es gibt so viele Tabus. Wir haben nicht diese Kultur, dass Eltern mit ihren Kindern reden, dass die Kinder untereinander reden. Wir reden nicht miteinander.
Midik: Es gibt Fälle, wo Väter mit ihren Kindern nicht sprechen.
Ates: Also reden Sie mit den Jungs! Wenn es in Ihren Köpfen ein anderes Frauenbild gibt, müssen Sie das weitergeben.
Könnten dabei auch öffentlichkeitswirksame Aktionen wie Demos oder Plakate helfen?
Ates: Es ist an der Zeit, solche Aktionen zu machen. Am heutigen Dienstag gibt es eine Trauerkundgebung an dem Ort, an dem Hatun S. ermordet wurde.
Die hat der Lesben- und Schwulenverband angemeldet.
Ates: Aber auch Einzelpersonen türkischer Herkunft rufen auf.
Cinar: Wichtig ist, dass das alles nicht nur innerhalb der Organisationen passiert und in den Predigten, sondern auch in der Öffentlichkeit. Kürzlich haben muslimische Organisationen in einer Zeitungsanzeige die Entführung einer italienischen Journalistin im Irak verurteilt. So etwas könnte man sich auch in dieser Frage vorstellen: Wir halten Ehrenmorde, Zwangsheirat und die Unterdrückung der Frau für nicht vereinbar mit unserer Religion. Aber die Mehrheitsgesellschaft muss auch endlich aufhören, über deutsche Werte zu diskutieren, an die sich die Ausländer anpassen müssen. Es geht nicht um deutsche oder türkische Werte. Es geht um universelle Menschenrechte.