Unser Nervenkostüm

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Das Internetportal Freenet zeigte Gespür für den Sensationswert des neuen FaschismusDie komplett medialisierte, hypernervöse Gesellschaft tendiertzu Überreaktionen

Als sich noch vor der ersten Hochrechnung zeigte, dass die Wahlen in Schleswig-Holstein die NPD zu einer vernachlässigenswerten Größe heruntergeschraubt hatten, zog für einen Abend Vernunft in die Berichte und Kommentare ein. Aus dem Laufband mit den Stimmprozenten am unteren Bildrand der Mattscheibe verschwanden die neuen Nazis umgehend, und mit den Spekulationen über die Möglichkeit einer tolerierten Minderheitsregierung in Kiel folgte nun ein Lehrgang über die Regularien der parlamentarischen Demokratie.

Man hätte meinen können, ein Hauch souveräner politischer Weisheit sei plötzlich durch die Fernsehredaktionen geweht. Aber eben nur ein Hauch: Zu befürchten ist, dass uns bis zum 8. Mai, vermutlich jedoch bis zu den Wahlen in Nordrhein-Westfalen der Medienklamauk um die Rechtsradikalen erst einmal erhalten bleiben wird. Die Frage ist, wie es dazu kommen konnte.

Dass unsere Wahrnehmung heutzutage mediengesteuert ist, wird als Selbstverständlichkeit hingenommen, deren Folgen nicht weiter geprüft werden. Und dass Politik hochgradig medial funktioniert, ist ein Gemeinplatz geworden, der Veränderungen beschreibt, sich gleichzeitig jedoch deren Analyse entzieht. Politikproduzenten und Medienmacher nehmen die von ihnen geschaffene Realität ratlos, im Ganzen aber billigend in Kauf. Die medialisierte Gesellschaft ist das Ergebnis einer langen und komplizierten Entwicklung, in der technische Innovationen, wirtschaftliche Machtkämpfe und politische Entscheidungen zusammengewirkt haben. Aber man spricht über sie, als wäre sie ein Naturphänomen.

Dabei wäre eine kritische Untersuchung des Sachverhalts besonders dann gefordert, wenn sich Brüche in Politik und Gesellschaft andeuten, die fiebrige – und eben: medial gestützte – Diskurse auslösen. Dass der neue Rechtsradikalismus „die Medien nutzt“, um sich als politische Alternative im Land aufzudrängen, ist weithin bekannt und wird in den Medien selbst thematisiert.

Die Konsequenz daraus ist nicht, dass Presse, Radio, Fernsehen und Online-Medien ihre Rolle in der Auseinandersetzung mit den Neonazis, außer vereinzelten selbstkritischen Anmerkungen, grundsätzlich überprüfen. Vielmehr scheint sich die alte journalistische Leitlinie, wonach nur schlechte Nachrichten gute, das heißt verkäufliche Nachrichten sind, bei diesem Thema schlagend zu bestätigen. Die Medien reagieren damit „systemisch“, nämlich als Supermaschine, die darauf programmiert ist, gesellschaftliche Störungen „progressiv“ im Sinne der dem System eingebauten Dynamik zu behandeln, sie zu beschleunigen und ihre Wirkung zu vervielfältigen.

Wenn die NPD-Führer ankündigen, am Jahrestag der Zerstörung Dresdens vor dem Sächsischen Landtag zu demonstrieren oder am 8. Mai durch das Brandenburger Tor zu marschieren, melden sie nicht nur ein Medienereignis an. Sie wissen auch, dass in den darauf folgenden Wochen ihre Ankündigung, die erregten Reaktionen der demokratischen Parteien und Politiker, die Stimmungen in der Bevölkerung und die Stellungnahmen relevanter gesellschaftlicher Kräfte ein beherrschendes Medienthema sein werden. Die Aufregung im Vorfeld infiziert auch die Berichterstattung über das Ereignis selbst und verzerrt seine Proportionen: So dominierte in der taz vom 14. Februar nicht die Gedenkfeier der Dresdner, sondern der Aufmarsch von 5.000 Neonazis den Aufmacher, die Fotos und den Brennpunkt-Bericht.

Das ganze Land bewegt sich in einer solchen Situation, autosuggestiv erregt, in einer politischen Wirklichkeit „zweiten Grades“. Magazine, Talkshows, Nachrichten-Specials recyceln über Wochen ein „brennendes“ Thema. Wir haben es nun nicht mehr mit dem Rechtsradikalismus als Phänomen unseres politischen Alltags, sondern mit einem medialisierten Rechtsradikalismus zu tun: mit der opulent bebilderten Metapher für eine Bedrohung, die Furcht einflößt, aufgeregte Rhetorik auslöst und hektische Maßnahmen provoziert.

Die Politiker, von ihren Medienberatern trainiert, reagieren professionell, aber unangemessen. Wenn Otto Schily, Kurt Beck und andere nicht müde werden zu betonen, dass die Rechtsradikalen „das deutsche Bild im Ausland“ ruinieren, meinen sie exakt die Fernsehbilder, die provozierenden Symbole, die „eigentlich“ verboten gehören. Die widerwärtigen Bilder beherrschen die Vorstellungskraft so sehr, dass man bereit ist, das Versammlungsrecht zu manipulieren. Mittels Verfassungsänderung, besser noch mit Hilfe des Parteiverbots soll weggewaschen werden, was die NPD in der Welt der Bilder, der politischen Ikonografie angerichtet hat oder noch anrichten könnte.

Wenn Stoiber den Kanzler persönlich für ein angebliches Erstarken der Neonazis haftbar macht, verschiebt er die Ursachenforschung auf die Ebene des Wahlkampfs und verhindert, ja tabuisiert damit gerade eine seriöse Erörterung der zweifellos vorhandenen sozialpolitischen Gründe für den neuen Rechtsradikalismus. Gemeinsam ist all diesen Reaktionen: Sie sind politisch substanzlos, aber mediengerecht. Sie nähren die verbreitete Bereitschaft zum Alarmismus, begünstigen Schuldzuweisungen in alle nur denkbaren Richtungen und füttern die Maschine.

Das Mediensystem verhält sich, seiner „Natur“ als Maschine gemäß, neutral gegenüber Anbiederung oder Verweigerung. Es mag von Menschen bedient werden, die eine gute demokratische Gesinnung haben und sich, zu Recht oder nicht, auf die journalistische Sorgfaltspflicht berufen – als Maschine reagiert es ideologisch blind. Es saugt auf, was ihm zugespielt wird; es fragt nicht nach Lüge oder Wahrheit, sondern forciert und dynamisiert das jeweilige Material. Es sucht die Kollision und den Skandal. Beide halten die Maschine letztlich in Gang.

An jenem Sonntag, als die Bevölkerung Dresdens der Bombardierung der Stadt vor 60 Jahren gedachte, forderte das Internetportal Freenet auf seiner Startseite: „Heute ein deutliches Zeichen gegen rechts setzen!“, und platzierte die Headline mitten unter die vollbusigen Schönheiten und schnellen Autos, die den täglichen, in der Regel vollkommen politikfernen Stoff dieser Website ausmachen. Freenet ist nicht etwa ganz plötzlich „politisch“ geworden. Vielmehr haben seine Redakteure ein Gespür für den Sensationswert des neuen Faschismus, für die Skandalnähe des Themas und für den Marktwert der richtigen Gesinnung. Freenet treibt die Spirale der Medialisierung nur ein Stück weiter und beweist schlagender noch als etwa die Bild-Zeitung, dass wir als Medienmacher und -nutzer in einer Parallelwelt agieren, deren Zerreffekte wir erahnen, freilich nicht genau bestimmen können.

Der historische Faschismus hat Deutschlands Industrialisierung und mit ihr die Medialisierung der Gesellschaft vorangetrieben. Seine Wiedergänger tauchen heute in einer postindustriellen, komplett medialisierten, hypernervösen Gesellschaft auf, die zu Überreaktionen tendiert – und zur Skandalisierung jedes beliebigen Themas, soweit es sich als Provokation im medialen Konkurrenzkampf bewährt. Gegenwärtig sieht es so aus, als wäre mit diesem Thema das Nervenkostüm unseres Gemeinwesens überfordert.

Fotohinweis: Klaus Kreimeier ist Publizist und Medienwissenschaftler in Berlin.