piwik no script img

Archiv-Artikel

Schäuble findet eine Million Muslime

INTEGRATION In Deutschland leben weit mehr Muslime als bislang angenommen. Sie sind überraschend gut sozial integriert

Deutsche Islamkonferenz

■ Im September 2006 fand die erste Deutsche Islamkonferenz unter Vorsitz von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) statt, die den Dialog zwischen dem deutschen Staat und den in Deutschland lebenden Muslimen fördern soll. Je 15 Vertreter des deutschen Staates und 15 Muslime, darunter Vertreter der Islam-Verbände, der Aleviten sowie muslimische Intellektuelle, nehmen an den drei Arbeitsgruppen und der Gesamtkonferenz teil. Am Donnerstag findet sie vorerst zum letzten Mal statt.

VON SABINE AM ORDE

Ehrenmord, Zwangsheirat, Rütli-Schule. Es sind Begriffe wie diese, die das öffentliche Bild von Muslimen hierzulande prägen. Eine neue Studie im Auftrag des Bundesinnenministeriums aber zeigt: Die soziale Integration der Muslime ist besser als vielfach angenommen. „Das sind positive Zeichen“, sagt eine Sprecherin von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). „Es gibt ganz viel Normalität.“

Die Studie ist die erste bundesweit, die einen repräsentativen Überblick über „das muslimische Leben in Deutschland“ gibt. Dafür hat das Nürnberger Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Auftrag des Innenministeriums und der Islamkonferenz 6.000 Muslime aus 49 verschiedenen Herkunftsländern zu Religion im Alltag und verschiedenen Aspekten der Integration befragt. Bislang ist nur eine Kurzfassung veröffentlicht, die Gesamtstudie wird auf der letzten Sitzung der Islamkonferenz am Donnerstag vorgelegt.

Die erste Überraschung: Es gibt weit mehr Muslime als bislang angenommen. In Deutschland leben rund vier Millionen Muslime, das sind fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Bislang schätzte man, dass es etwa drei Millionen sind. Der Grund: Die Studie des Bundesamtes hat mehr Herkunftsländer berücksichtigt und auch die Kinder der eingebürgerten Muslime. Fast zwei Drittel der Muslime stammen aus der Türkei, kleinere Gruppen kommen aus südosteuropäischen Ländern wie Bosnien oder Albanien, dem Nahen Osten und Nordafrika. Fast alle wohnen in den alten Bundesländern einschließlich Berlin, die meisten in Nordrhein-Westfalen.

45 Prozent der Muslime hierzulande haben die deutsche Staatsbürgerschaft, mehr als die Hälfte von ihnen ist in einem „deutschen Verein“ organisiert. Dazu zählen Sportvereine ebenso wie Gewerkschaften und Seniorenclubs, nicht aber Organisationen, die sich auf Herkunftsländer beziehen. In einem solchen Verein sind lediglich vier Prozent ausschließlich Mitglied.

Auch nach Tragen des Kopftuchs und Teilnahme am Schwimmunterricht, die häufig im Zusammenhang mit Integration debattiert werden, haben die Forscher des Bundesamts gefragt. Das Ergebnis: 70 Prozent der Musliminnen tragen kein Kopftuch; das gilt auch für die Hälfte der Frauen, die sich selbst als stark gläubig bezeichnen. An Klassenfahrten nehmen 90 Prozent der muslimischen Mädchen teil, am Schwimmunterricht 93 Prozent.

Vergleicht man die erste und die zweite Generation, also die Eingewanderten mit den hier Geborenen, dann ist ein Bildungsaufstieg zu verzeichnen, besonders bei den Mädchen: Der Anteil derer, die die Schule mit einem Abschluss verlassen, steigt deutlich an. Das allerdings liegt auch an dem sehr niedrigen Bildungsstand der Frauen der ersten Einwanderergeneration. Und es darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es unter den Muslimen eine überproportional hohe Anzahl von Schulabbrechern, Arbeitslosen und Armen gibt. Dies gelte besonders für die türkischstämmigen Migranten, so die Studie.

„Für Experten sind diese Zahlen nicht überraschend“, sagt Ahmet Toprak, Professor für Erziehungswissenschaften in Dortmund und Mitglied der von Schäuble einberufenen Islamkonferenz. Weil aber in der Öffentlichkeit immer nur über die Probleme geredet werde, „gerät die große Mehrheit, die keine Schwierigkeiten macht, meist völlig aus dem Blick“.

Ähnlich sieht es auch der Düsseldorfer Islamwissenschaftler Michael Kiefer. Allein der hohe Anteil derer, die in deutschen Vereinen organisiert sein sollen, lässt ihn aufhorchen. „Das deckt sich nicht mit meinen Erfahrungen“, sagt Kiefer, der nicht nur wissenschaftlich zum Thema arbeitet, sondern auch in der Gemeinwesenarbeit in Düsseldorf aktiv ist. „Aber wenn das wirklich stimmt, ist das ein sehr gutes Zeichen.“ Es mache deutlich, „dass Integration im kommunalen Raum funktioniert und es nur wenig Segregation gibt.“ Gut sei zudem, dass endlich umfassende Zahlen über Muslime in Deutschland vorliegen, lobt Kiefer. „Das wird die Diskussion versachlichen.“

Die Mehrheit der Muslime, auch darüber gibt die Studie Auskunft, ist gläubig. Ein gutes Drittel stuft sich als „sehr stark“, die Hälfte als „eher gläubig“ ein. 14 Prozent gaben an, „eher nicht“ oder „gar nicht“ zu glauben. Mitglied in religiösen Vereinigungen oder Gemeinden ist mit 20 Prozent nur eine Minderheit. Nicht einmal ein Viertel fühlt sich von den Spitzenverbänden vertreten. Religiöse Veranstaltungen besucht nur ein gutes Drittel häufig, die Mehrheit selten oder nie. Der Wunsch nach islamischem Religionsunterricht ist dagegen stark ausgeprägt. 76 Prozent der Muslime sprechen sich dafür aus; unter den Sunniten, der weitaus größten Gruppe der Muslime hierzulande, sind es sogar 84 Prozent.

Meinung + Diskussion SEITE 12