: Und es bewegt sich doch etwasDer Zufallskoch
Eigene Ideen haben, diese umsetzen, womöglich noch mit finanziellem Gewinn – gibt es das hierzulande noch? Kaum zu glauben – aber hier präsentieren wir vier funktionierende Geschäftsideen VON LUCIA JAY VON SELDENECK (TEXT) UND SOPHIE AIGNER (FOTOS)
Bei Gino gibt es süddeutsche Spezialitäten: Flammkuchen und Kässpätzle kommen in Berlin gut an.
Die Waldtapete, die groben dunklen Holztische und das schummrige Licht verleihen dem Eckraum etwas Heimeliges. Die Abendkarte an der Wand bietet Schupfnudeln oder Flammkuchen. Volker hatte die Idee für das Restaurant mit süddeutschen Spezialitäten vor einem Jahr. Gastronomie hat er nie gelernt, es hat sich ergeben.
Nach dem Studium in Musik und Kulturwissenschaften war Volker für mehr als ein Jahr arbeitslos. Dann hat er eine Umschulung zum Tontechniker gemacht. Nebenbei hat er in einer Bar gearbeitet. „Ich finde es wichtig, dass man zulässt, was sich ergibt. Man muss die Dinge passieren lassen und dann stimmt es meistens auch“, erzählt Volker, „der Laden stand leer und mit meiner Musik habe ich keinen Job gefunden.“ Das Gino war vorher die Pizzeria Gino. „Es gab also einen großen Pizzaofen und so kam die Idee mit den Flammkuchen“, erklärt der 35-Jährige.
„Ich hatte keine Ahnung, wie arbeitsintensiv das werden würde“, gibt Volker zu, aber etwas Eigenes zu machen hat ihn gereizt. In der Gastronomie geht es nicht nur um einen selbst, man trägt Verantwortung für alle Angestellten. Volker wird ein wenig nachdenklich. Es sei ganz schön schwer, ein guter Chef zu sein und eine gute Stimmung im Laden aufrechtzuerhalten. „Ich verdiene eigentlich das Gleiche wie alle anderen hier, wenn ich hinterm Tresen stehe oder in der Küche arbeite oder einkaufen fahre.“
„Es ist toll, wenn die Leute rausgehen und glücklich sind“, sagt Volker. Und obwohl es manchmal schwer sei und das Geld oft vorne und hinten nicht reiche, mit der Zeit werde die Zusammenarbeit routinierter und, Volker überlegt kurz, man selbst abgebrühter. „Das Gino ist eben mein drittes Baby“, sagt der Vater von zwei Kindern, „auch wenn ich hier nicht reich werde.“
Restaurant Gino, Sorauer Str. 31, 10997 Berlin
Der Vermittler
Mit Singles.de hatte Boris einen Riesenerfolg. Obwohl die Euphorie der New Economy vorbei ist, macht er weiter: Lernfix.com vermittelt Nachhilfelehrer
„Der schnellste Weg zum anderen Geschlecht“ stand auf der Einstiegsseite. Das gab es damals im Jahr 1999 so noch nicht im Internet. Mit Singles.de hat Boris einen Clou gelandet. Vier Jahre lang konnte er davon leben. Aus einer einfachen Chatplattform entwickelte sich die größte deutschsprachige Online-Partnervermittlung und Kontaktbörse. Damals war Boris 21 Jahre, Abiturient und hatte einen Plan: „Ich mach mich selbstständig.“ Programmieren hatte Boris sich selbst beigebracht.
„Für mich stand vor allem der Kontakt im Vordergrund, die Vermittlung zwischen den Leuten.“ Nach einem knappen Jahr lief das Kundenverzeichnis für die kostenlosen Kontaktanzeigen. Mit den bis zu 3.000 Besuchern am Tag kamen auch die ersten Werbeanfragen. „Am Anfang waren es zehn, manchmal fünfzehn Stunden Arbeit am Tag“, erinnert sich Boris. Aber der Erfolg konnte sich sehen lassen. Immer noch begeistert erzählt er von der Boomzeit: „Am Anfang waren es 400 Mark im Monat, später hing eine Null mehr dran.“
„Man muss schon ein bisschen Freak sein, aber dabei realistisch bleiben.“ Singles.de gehört inzwischen der Vergangenheit an. Boris hat die Seite vor einem Jahr verkauft. „Zu viel Arbeit und immer mehr Schwierigkeiten.“ Heute sei so etwas nicht mehr möglich, resümiert er. Aber es gibt noch Marktlücken im Netz. Eine Vermittlung von Nachhilfe ist das neue Projekt, das seit gut einem Jahr online ist. „Lernfix.com wird nie so groß werden wie Singles.de, aber es ist ein netter Nebenverdienst.“ Boris grinst. „Und ich hab was Eigenes geschaffen.“
Die Erfahrung mit Singles.de ist dabei nicht nur in technischer Hinsicht notwendig. Boris kennt sich in den Marktgesetzen aus: „Man muss dreist sein. Jedes Mal, wenn ich teurer werde, verdoppeln sich die Anfragen.“
Die Ausprobierer
Butterflysoulfire haben aus Second-Hand-Klamotten neue Sachen geschneidert. Mit ihrem Collage-Stil sind sie erfolgreich.
Hinten in dem kleinen Laden in Prenzlauer Berg herrscht die Fantasie. Hier werden Stoffe zuerst zerschnitten, dann zusammen mit anderen wieder zu Jacken oder Hosen verarbeitet und später mit Slogans oder Mustern bedruckt. Sie sind zu dritt und nennen sich Butterflysoulfire. Keiner von ihnen hat schneidern gelernt.
Maria, Thoas und Jens arbeiten oft Tag und Nacht. „Wir gucken nicht, was andere machen“, erklärt Maria: „Wir planen unsere Muster auch nicht, sondern machen sie einfach.“ Die 27-jährige Bühnenbildstudentin hat eine weite Pluderhose an, die sie selbst entworfen und genäht hat. „Es macht unseren Stil aus, dass wir Mode oder Schneidern nicht gelernt haben.“ Thoas fällt ihr ins Wort: „Wir entwickeln die Sachen beim Arbeiten.“ Und nicht ohne Stolz fügt er hinzu: „Und wir werden mit jedem Teil besser.“ Ihre Stücke sind alle Unikate.
„Wenn etwas schief wird, ist es bei uns nicht schlimm“, versuchen die drei ihren Stil zu beschreiben. Ihre Collage-Kleider mit den kontrastsetzenden Motiven und Schriften seien „Kunst zum Anziehen“, erzählt Thoas. Die Jacken und Shirts sind aber auch Transportmittel für eigene Botschaften. In großen Lettern steht da quer über den Rücken oder über beide Ärmel: „Error worldwide“, „Lost in the supermarket“, „God is in the radio“.
„Viele Menschen haben Ideen, aber nur fünf Prozent setzen sie um“, Thoas und Maria sind sich einig: Die Menschen denken zu viel über Konzepte, Abläufe und Geldgeber nach und dabei geht die Idee verloren.
Inzwischen wird Butterflysoulfire auch in Frankreich verkauft, auf bekannten Modemessen präsentiert, von MTV promotet. Eine Jacke kostet im Laden 260 Euro. Die drei Schneider wollen sich einerseits vergrößern, aber nicht ihre Arbeit aus den Händen geben. Denn, so sagt es Maria: „In unseren Sachen steckt Herz und das merken die Leute.“
Der Trendsetter
Johnny-Tapete hat den Retro-Trend mitbegründet. Zumindest den an der Wand.
Sie sind orange und grün geblümt oder braun-golden gekachelt. Hajo zeigt seine Lieblingsstücke. Beinahe liebevoll öffnet er die Rollen. Es sind Original-Tapeten aus den 60er- und 70er-Jahren. „Das kann man fühlen“, erklärt er, „die neuen Retro-Drucke sind dagegen schlechte Qualität. Ganz glatt und dünn.“
Nach dem Filmwissenschaftsstudium hat Hajo auf Filmfestivals gearbeitet. Die Tapeten hat er durch Zufall entdeckt. „Ich war zu Besuch in …“ , er hält inne und lächelt verschwörerisch, „sagen wir mal in Holland. Ich werde meine Quelle ja nicht verraten.“ Eines Abends hat Hajo in einem kleinen Städtchen sein Auto nicht mehr gefunden und sich verlaufen. „Und da sah ich das Schaufenster, voller Tapeten. Tapeten, die man sonst nirgendwo findet.“ Das war vor drei Jahren.
Die Idee, die Tapeten zu verkaufen, war gleich da. „Ich war mir sicher, dass es eine Nachfrage gibt“, erklärt der 33-Jährige geschäftsmännisch. Der erste Versuch auf dem Flohmarkt war erfolgreich: Die 30 Rollen waren in vier Stunden weg. „Dann habe ich mehr eingekauft, alle vier Wochen ungefähr.“ Investieren, verkaufen, neu einkaufen. Und jedes Mal mehr.
Im Kulturbereich gehöre immer noch Mut dazu, einer artfremden Tätigkeit nachzugehen, sagt Hajo. Man überschreitet eine Grenze, bricht mit einem Tabu, wenn man von dem „üblichen Weg“ abweicht. „Man erntet nicht selten ein Stirnrunzeln“, resümiert Hajo, „aber ich kann ganz gut von den Tapeten leben.“
Ein weiterer Verkaufsweg hatte sich aufgetan: E-Bay. Es waren die ersten Tapeten, die in der Rubrik „Design“ Einzug hielten. „Sie waren ein echter Bringer“, erinnert sich Hajo nicht ohne Stolz. „Ich habe einen neuen Markt für einen Artikel geschaffen.“ Damit wurde das Geschäft professioneller. Mit der eigenen Internetseite und einem angemeldeten Gewerbe verkauft Hajo jetzt als „Johnny-Tapete“ auch nach England, Singapur und Australien.