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Archiv-Artikel

Im Lummenland

NESTFLUCHT Eine der Attraktionen Helgolands ist der Sprung der Lummen – der findet allerdings nur in der Dämmerung statt und ist deshalb schwer zu sehen

Viele Vögel

Naturschutz gibt es auf Helgoland seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Hugo Weigold und Rudolf Drost beschäftigten sich damals mit der Jagd auf Trottellummen, von denen gegen Ende der Brutzeit regelmäßig 600 bis 800 zum Gaudium der Touristen geschossen wurden.

■ Auch mit „Ölpest“, der Begriff stammt von Weigold, und der Kollision von Zugvögeln mit dem Helgoländer Leuchtturm, setzten sich die beiden auseinander.

■ Das hat etwas gebracht: Heute brüten 12.000 Paare verschiedener Vogelarten auf der Insel. Während der Aufzuchtphase leben mehr als 30.000 Vögel und 1.300 Helgoländer auf dem Eiland. ROR

VON HELGOLAND ROGER REPPLINGER

Wir stehen oben an der Langen Anna und sehen die Lummen. Aber sie springen nicht. Sie sitzen nur so in der Sonne und lassen sich vom Wind die Federn aufplustern. Lummen haben schwarze Köpfe und einen weißen Bauch. Sie sehen aus wie kleine Pinguine.

Am Felsrand stehen Touristen in roten Windjacken und Hobby-Ornithologen mit Feldstechern und wollen springende Lummen sehen. Denn der Sprung der Lummen ist eine der Attraktionen der Insel Helgoland. Die Insel macht Werbung mit dem Sprung der Lummen, die seit dem 19. Jahrhundert hier brüten, doch die Lummen sind nicht berechenbar, halten sich nicht an Ladenöffnungszeiten und fühlen sich nicht dazu verpflichtet, den Touristen einen Gefallen zu tun.

Immerhin flattern ein paar Lummen mit hektischem Flügelschlag um die Lange Anna, das aus rotem Buntsandstein bestehende Wahrzeichen Helgolands, aber noch immer springt keine. Die Lumme – Uria aalge, wie der Ornithologe sagt –, die eigentlich Trottellumme heißt, ist so um die 40 Zentimeter groß, wiegt ein Kilogramm und ist ein Alk. Also ein Vogel. In den Monaten Mai und Juni verlassen die gerade geschlüpften, noch stummelflügeligen Jungvögel, das Nest.

„Verlassen“ stimmt vielleicht nicht ganz. Vater oder Mutter locken den Jungvogel, der eigentlich keine Lust hat, es zu verlassen, aus dem Nest. Wenn das nicht hilft, werden die Jungen ziemlich unbarmherzig aus der warmen Wohnung geschubst. Die Junglumme plumpst dann Richtung Wasser, knallt nach 40 Metern auf die Nordsee, überlebt den Aufprall dank des angefressenen Fettes, das wie ein Airbag wirkt und schwimmt anschließend Richtung Nordwesten ins bis zu 1.000 Kilometer weit entfernte Winterquartier. Der Vater geht mit den Küken auf die lange Reise, die Mutter fliegt später hinterher.

Das Fliegen ist nicht der Lumme Ding. Sie ist ein Vogel der besser schwimmt und taucht als er fliegt, Lummen können bis zu 180 Meter tief tauchen. Die Trottellummen schwimmen nach Nordwesten, weil sie ihren Lieblingsfischen folgen: Sandaalen, Sprotten und Heringen. Geht es diesen Kleinfischen gut, wird die Lumme satt und vermehrt sich.

Den Großteil ihres Lebens verbringen die Lummen auf dem Wasser. Nur zum Brüten kehren die mit fünf Jahren geschlechtsreifen Tiere aufs Land zurück. Die Lumme kommt viel rum: Außerhalb der Brutzeit wurden Helgoländer Trottellummen an den Küsten der Nordsee, Ostsee, der norwegischen Atlantikküste bis hinauf zum Polarkreis entdeckt.

Leider sind die Vögel heute ausgesprochen faul. Sitzen im Nest, dann und wann fliegt eine Lumme ein paar Meter. Immer noch kein einziger Sprung. Die Touristen ziehen enttäuscht weiter und die Hobby-Ornithologen packen ihre Ferngläser ein.

Vor hundert Jahren guckten Lummen-Interessenten nicht durch Feldstecher sondern Zielfernrohre auf die Lummen. Die Lummen wurden von den Touristen aus den Felswänden geknallt.

Es gibt Menschen wie die Biologin Folke Mehrtens, die zehn Jahre auf Helgoland gelebt hat, von Berufs wegen mit Vögeln zu tun hatte, und „nie eine springende Lumme gesehen“ hat. Obwohl sie sich „wirklich angestrengt“ hat. Die Lumme springt in der Dämmerung. Weil dann die Chancen der Silber- und Dreizehenmöwen, eine Junglumme im Flug oder auf dem Wasser sitzend zu schnappen und zu fressen, schlecht sind. In der Dämmerung sehen die Möwen die Lummen nicht, und wir, die wir geduldig am Felsrand stehen, sehen sie auch nicht.

Neben den Möwen sind auch die Mitarbeiter der Vogelwarte Helgoland und des Vereins Jordsand scharf auf die Lummen. Sie vermessen und beringen die Jungtiere, die ins Wasser gesprungen sind und tragen die Lummen, die innerhalb der Schutzmauern der Insel gelandet sind, aufs Wasser hinaus. Mitarbeiter der Vogelwarte sitzen außerdem Nacht für Nacht am Fuß der Langen Anna, dort, wo die abgebrochenen Felsstücke liegen, und zählen alle gesprungenen Lummen. „Gestern waren es nur zwei“, sagt Folke Mehrtens.

In den Felswänden hinter der Langen Anna sitzt eine Lumme neben der anderen. Es riecht streng. Guano, das ist Vogeldung. Oben am Felsen, fast zum Greifen nah, brüten Basstölpel. Die gibt es seit etwa 1980 auf Helgoland. Sie haben gelbe Köpfe und graue Schnäbel und sind von März bis September auf der Insel und ziehen in dieser Zeit ein Junges groß. Basstölpel bringen ihre Jungen zum Verlassen des Nestes, indem sie das Füttern einstellen. Irgendwann haben die Jungtiere einen solchen Hunger, dass sie das Nest verlassen.

In den Nestern leuchtet es rot und blau. Das liegt daran, dass die schlauen Basstölpel Teile unverrottbarer Fischernetze für den Bau ihrer Nester verwenden. Genau in diesen Netzen sterben Jahr für Jahr allein in der Ostsee 1.500 Lummen. Es gibt immer wieder Lummen, die, in Netze verheddert, kläglich schreiend im Felsen verhungern. Weltweit gibt es neun Millionen Trottellummen, auf Helgoland, dem einzigen deutschen Brutplatz, leben etwa 2.500 Paare.

Lummen sind laut. Ihr Ruf klingt erkältet, es gibt aber auch eine Variante, die an Kinderschreien erinnert. Lummen können bis zu 30 Jahre alt werden, ihren Sprung behalten sie am liebsten für sich.