: Ganz am Ende der Start
Heute vor sechzig Jahren startete die erste bemannte Rakete der Welt. Niemand erinnert sich an den Piloten Lothar Sieber als Pionier, denn die erste Rakete war die letzte Hoffnung der Nazis auf den Endsieg. Ihr Erfinder Erich Bachem verhalf den Deutschen nach dem Krieg dann doch noch zur Eroberung Europas
VON ARNO FRANK
Die Geschichte der Luftfahrt ist immer auch die romantische Geschichte ihrer Helden. Von den ersten Gleitflügen über die ersten motorisierten Hüpfer bis zum ersten Transatlantikflug ist jede neue Stufe in der technischen Entwicklung mit dem Namen des Piloten verknüpft, der ihre theoretische Machbarkeit auch praktisch unter Beweis stellte. Otto Lilienthal, die Gebrüder Wright oder Charles Lindbergh? Kennt heute jedes Kind. Und Lothar Sieber? Ist völlig vergessen, obwohl der Pilot immerhin den ersten bemannten Raketenstart gewagt hatte.
Heute vor genau 60 Jahren, am Nachmittag des 1. März 1945, kletterte der damals 23-Jährige zum Testflug in eine der so genannten Wunderwaffen, die nach dem Willen des „Größten Feldherren aller Zeiten“ die Niederlage doch noch abwenden sollten. Zwei Beispiele zeigen, dass allein die Rede von den „Wunderwaffen“ den Krieg weit effizienter verlängerte, als es ihre tatsächliche Wirkung tat. Ein gutes Beispiel hierfür sind die gefürchteten „Vergeltungswaffen“ V1 und V2, die vor allem gegen London und später Antwerpen eingesetzt wurden. In London sollten die von Wernher von Braun konstruierten Raketen vor allem die Zivilbevölkerung in Furcht und Schrecken versetzen.
Nach der ersten Überraschung aber wagten sich schnelle britische Abfangjäger immer näher an den mysteriösen Marschflugkörper heran – und stellten fest, dass sich die Terrorwaffe gefahrlos aus der Flugbahn schubsen ließ. Eher taktisch geprägte Einsätze, beispielsweise Raketenangriffe auf den von Alliierten genutzten Hafen von Antwerpen, wurden bald wegen mangelnder Zielgenauigkeit eingestellt. Insgesamt kostete die Herstellung dieser Waffen durch Zwangsarbeiter mehr Menschen das Leben als ihr Einsatz.
Auch der erste Düsenjäger der Welt, die Messerschmitt Me 262, wurde von den Alliierten mit Verblüffung zur Kenntnis genommen. Verblüffend einfach war es dann aber auch für die Royal Air Force, die auffällig langen Start- und Landebahnen für die „Wunderwaffe“ aufzuspüren und die wenigen Modelle, die überhaupt hergestellt wurden, kurzerhand am Boden zu zerstören. Damit waren die beiden aufwändigsten und verwegensten Entwicklungen des militärisch-industriellen Komplexes des Reiches in taktischer Hinsicht auch schon erledigt.
Dennoch war gezielte Information und Desinformation über die angeblich überlegene Waffentechnik der Deutschen im Interesse der Nazi-Propaganda. Das Raunen und Munkeln von den „Wunderwaffen“ sollte den Durchhaltewillen der Bevölkerung stärken und den Glauben an den „Endsieg“ erhalten. Diese Wunderwaffen seien die Garanten für die erfolgreiche Beendigung des Krieges. Auf alliierter Seite beschleunigte die Angst vor einer deutschen Atombombe die atomare Aufrüstung, obwohl entsprechende Programme schon frühzeitig gestoppt worden waren. Statt in langfristige Projekte wie die Kernspaltung wurde in konkrete Lösungen für Probleme der konventionellen Kriegsführung investiert. Für die geplante Invasion der britischen Inseln etwa wünschten sich deutsche Generäle schnelle Truppentransporter, Ingenieure entwickelten daraufhin einen Vorläufer des Luftkissenbootes – der aber schneller absoff, als der Plan einer Invasion Englands illusorisch wurde.
Immer wieder wurden erfolgversprechende Entwicklungen gestoppt, um zunehmend esoterische Projekte in Angriff zu nehmen. Ganz ernsthaft experimentiert wurde mit einer Schallkanone gegen feindliche Infanterie oder einer Windkanone gegen Tiefflieger. Um trotz ihrer geringen Reichweite das US-amerikanische Festland mit V2-Raketen beschießen zu können, wurde eine Art Anhänger konstruiert, mit dem U-Boote die V2 quasi ins Schlepptau hätten nehmen können. Dieser Raketen-Behälter wäre dann vor New York partiell auf eine Weise geflutet worden, dass er als schwimmende Abschussrampe funktioniert hätte.
Anders aber als solche Hirngespinste, gespeist aus der Euphorie früher Kriegserfolge, wurde die Lage spätestens im Herbst 1944 so verzweifelt, dass selbst zuvor abgelehnte Projekte eifriger Ingenieure neu geprüft und finanziert wurden. Einer dieser eifrigen Ingenieure war der Diplomingenieur Erich Bachem, und er präsentierte eine Lösung für das Problem der alliierten Bomberflotten, die völlig ungehindert deutsche Städte angreifen konnten: die „Natter“, einen Stummelflügler, der von einer mobilen Lafette senkrecht hinter den einfliegenden Bomberverbänden starten sollte. Angetrieben von einem Raketentriebwerk der Marke Walter HWK 109-509A sollte seine „Natter“ sich dem feindlichen Pulk in Schallgeschwindigkeit nähern und ihn von hinten beschießen. Der komplette Rumpf dieses Wegwerf-Fliegers bestand aus einer billigen Holzkonstruktion, statt einer sicheren Landung sollte der Pilot nach seiner Mission mit dem Fallschirm aussteigen.
Die SS finanzierte Erich Bachems Versuchsreihen, genügend unverbaute Treibwerke gab es überall – nun bedurfte es noch eines Piloten, der irrsinnig oder verzweifelt genug war, die „Natter“ auch tatsächlich zu fliegen.
Die Wahl fiel auf Lothar Sieber, einen ehrgeizigen Leutnant der Luftwaffe, der wegen eines simplen Wachvergehens degradiert worden war. Wenn er die „Natter“ fliege, wurde ihm gesagt, würde er wieder in seinen alten Rang erhoben. Sieber reiste ins geheime Testgebiet, den Truppenübungsplatz Heuberg am Rande der schwäbischen Alb. Sechs Wochen lang beobachtete er die unbemannten Teststarts, fachsimpelte mit dem Entwickler Bachem – und machte sein Testament.
Was an diesem 1. März 1945 wirklich passierte, ist trotz überlieferter Augenzeugenberichte nicht ganz klar. Fest steht, dass der Start erfolgreich war, dass das skurrile Gefährt senkrecht aufstieg und in einem Wolkenschleier verschwand. Fest steht, dass Lothar Sieber mit der „Natter“ die Schallgeschwindigkeit durchbrach. Und fest steht, dass er sich mit seinem Projektil nach einem Flug von sieben Kilometern bei der Ortschaft Nuspingen wieder in den Boden rammte. Unklar ist, warum Sieber die Kontrolle über die Rakete verloren hat, ob ihm die unerhörte Beschleunigung schon beim Start das Genick gebrochen hat. Ein Fuß war das Einzige, was nach dem Absturz von Lothar Sieber übrig geblieben ist.
Anders als sein Testpilot kam der Konstrukteur der „Natter“ unversehrt durch die letzten Kriegswochen. Erich Bachem kam zu neuen Ehren. Während der Mythos von der überlegenen deutschen Kriegstechnik in den Fünfzigerjahren Karriere machte, etablierte sich Bachem als Erfinder einer Konstruktion mit nachhaltigem Erfolg. Eine simple Konstruktion aus Holz mit Metallrahmen, ganz wie die „Natter“. Es war eine Erfindung, nach der die Nachkriegsdeutschen ganz verrückt waren. Eine Konstruktion, mit der die Nachkriegsdeutschen dann doch noch Europa erobern sollten – nicht mit der „Natter“, sondern mit dem „Eriba“, dem nach Erich Bachem benannten Wohnanhänger der Firma Hymer.