Hinter den Gittern der Gegenwart

Wenn auch Sie zwischen 30 und 60 Jahre alt sind, dann sollten Sie das Buch „Schöne junge Welt“ lesen. Freundlich, melancholisch und nur selten fatalistisch erklärt uns darin Claudius Seidl (46), warum diese Generation zumindest „im Kopf“ nicht älter wird: Sie ist verdammt zur ewigen Jugend

VON GERRIT BARTELS

Es war der letzte Sonntag des Jahres 2002, als im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein Hilferuf der besonderen Art erschien; einer, der zwar irgendwie ernst gemeint war, der aber auch, dem Wesen der FAS entsprechend, spielerisch sein und einen Trommelwirbel entfachen sollte. „Hilfe, wir werden jünger“, hieß der Artikel, der vom FAS-Feuilletonchef Claudius Seidl stammte und davon handelte, dass unsere Gesellschaft immer älter wird und keinen Nachwuchs mehr produziert, sich aber die vielen Alten und potenziellen Alten, die 30- bis 60-Jährigen, zunehmend weigerten, erwachsen zu werden. Von einer neuen Orientierungslosigkeit und Einsamkeit war in dem Artikel die Rede, davon, dass sich die 20- bis 40-Jährigen nicht mehr „an den Rollenvorgaben der Eltern- und Großelterngenerationen orientieren“ könnten und all das letztendlich genauso evolutionsbiologisch wie durch die popkulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten dreißig, vierzig Jahre begründet ist: „Wir sind verdammt zur Verlängerung der Jugend.“

Damals sorgte der Artikel für wenig Aufsehen, vielleicht weil er wegen seiner Publikation zwischen den Jahren gewissermaßen in einem dem Thema angemessenen Zeitloch verschwand; den 1959 geborenen Seidl aber trieb die Sache mit dem Altern und Jüngerwerden weiter um, und nun hat er aus seinem vermeintlichen Hilferuf von damals ein ganzes Buch gemacht: „Schöne junge Welt – Warum wir nicht mehr älter werden“.

Typische Zweitverwertung, könnte man sagen, die jedoch erst vor dem Hintergrund des äußerst erfolgreichen Methusalem-Buches von Seidls Vorgesetzten und FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher interessant wird. Seidl wird jetzt gern mal damit konfrontiert, ein Epigone zu sein, ein Chef-Sekundant, oder, im günstigeren Fall, eine Art Gegenbuch zum „Methusalem-Komplott“ geschrieben zu haben. Dazu fällt immer noch ein anderer Name aus FAZ-Kreisen: der von Florian Illies, dem Autor von „Generation Golf“ und einstigen Leiter der dahingeschiedenen Berliner Seiten – so als sei „Schöne junge Welt“ der „Golf“-Nachfolger für die ältere Generation, und als gehöre es zum guten Ton für leitende FAZ-Redakteure, Generationsbücher zu schreiben.

Tatsächlich ist „Schöne junge Welt“ weder das eine noch das andere: Für ein bloßes Generationsbuch ist es eine Idee zu komplex und essayhaft geraten. Wohl nur der besseren Verkäuflichkeit halber und auf Drängen des Verlages hat Seidl in manchem Kapitel den typischen „Wir“-Ton der Generationsbücher gewählt.

Und ein Anti-oder Mini-Schirrmacher-Buch ist „Schöne junge Welt“ auch nicht, sondern mehr Ergänzung und Erweiterung. Schon gar nicht ist es apokalyptisch und fuchtelt mit erhobenem Zeigefinger, sondern wird bestimmt von: Freundlichkeit, Melancholie und einem Hang zum Fatalismus.

Die vergreisende Gesellschaft kommt natürlich vor, nur sind für Seidl die demografischen Modelle zwar hieb- und stichfest, gingen aber eben naturgemäß davon aus, „daß unsere Biografie-Baupläne dieselben wie in den vergangenen Jahren sind, kurz, daß es die Revolution der Lebensläufe nicht gegeben hat“. Seidl erzählt nun von genau dieser „Revolution der Lebensläufe“, vom Ende der „Herrschaft der alten Lebensblaupausen“, dem Verschwinden der Vorstellung, „daß die Jugend spätestens mit dreißig zu Ende sei, daß Jugend überhaupt ein Ende haben müsse“.

Dafür hat er jede Menge Anschauungsmaterial gesammelt: aus dem eigenen Leben, für das er sich spätestens seit seinem 40. Geburtstag mindestens zehn Jahre zu alt fühlt, wenn nicht gar fünfzehn, wie es seine Frau mutmaßt. Und bei Freunden, seiner Schwester und Leuten aus dem Kulturbetrieb jenseits der 40, die er extra für das Buch interviewt hat: etwa den Musiker Fetisch oder eine anonym bleiben wollende Berliner Schauspielerin.

In diesen Passagen liest sich das Buch tatsächlich wie ein Trostbuch für eine Generation von Übervierzigjährigen, die sich wundert, dass sie noch immer Konzerte von Bands wie Bloc Party oder Mando Diao besucht, noch immer nachts in irgendwelchen angesagten Clubs herumsteht, noch immer an ihrem Lebensplan herumbastelt; und die sich eben fragt, ob all das auch seine Richtigkeit hat?

Ohne Libido, Figur und Haare

Es hat, es hat, meint Seidl. Nur ließe sich auch einwenden, dass er da womöglich einer professionellen Deformation aufsitzt, dass das Ganze nicht repräsentativ ist und lediglich eine Milieuschilderung: Angehörige des Medienbetriebs leben ein anderes Leben als Ärzte, Verwaltungsangestellte oder VW-Arbeiter; auch sieht das Leben eines Vierzig- oder Fünfundvierzigjährigen in einer Stadt wie Braunschweig anders aus als das eines Gleichaltrigen in Berlin; und hört man nicht immer wieder von deprimierenden 20-Jahre-Abitur-Treffen in irgendwelchen Kleinstädten? Wo das Ende aller juvenilen Illusionen vielköpfig personifiziert herumsitzt und dieser Verlust sich gerade bei den Männern auch körperlich darstellt: als Verlust der Figur, des Haarschopfes, gar der Libido?

Seidl ficht das nicht an, auch nicht, dass es Bohemiens schon zu allen Zeiten gegeben hat. Er weiß für seine These der Dauerjugendlichkeit breiter Gesellschaftsschichten den Pop und das Kino auf seiner Seite; Figuren wie Frank Sinatra, Dean Martin oder Madonna, Helden der populären Kultur, die eben „auch unsere Geschöpfe, unsere Projektionen“ sind, und Filme wie „The Thomas Crown Affair“, das Remake eines Films über ein New Yorker Großstadtpärchen. 1968 wurde dieses von dem 38-Jährigen Steve McQueen und der 27-Jährigen Faye Dunaway dargestellt, 1999 von der 45-Jährigen Rene Russo und dem 46-Jährigen Pierce Brosnan, Letztere für Seidl nun ausreichend repräsentativ: „Bestätigt vom Markt. Geprüft von hunderttausenden Zuschauern. Rene Russo mit fünfundvierzig, jung, sinnlich, gut gelaunt: Das war die Norm, darauf konnte ich mich verlassen.“

Andererseits gibt Seidl seinem Buch auch einen wissenschaftlichen Anstrich. Er versucht zu erklären, warum wir altern, und zieht etwa den amerikanischen Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould zu Rate. Für den ist die verzögerte Entwicklung das entscheidende Merkmal der menschlichen Evolution, basierend wiederum auf Beobachtungen des Anti-Darwinisten und einst als Spinner abgetanen holländischen Anatomen Louis Bolk. Der beschrieb den Körper eines Menschen in den Zwanzigerjahren als einen „Primatenfötus, der sexuell reif geworden ist“, und nannte diese verzögerte Entwicklung „Neotenie“, und Seidl schließt diese Neotenie mit den verbesserten Lebensbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest in den Industrieländern kurz, um sich die stetige Verjüngung zu erklären.

Das ist natürlich genauso straff verkürzt, wie es auf die Schnelle überzeugend klingt; doch noch schöner an Seidls Buch ist, dass es auch auf manchem Widerspruch aufgebaut ist.

Gefangen in der Gegenwart

Gerade die vier länger geschilderten Lebensläufe sind durchaus von zahlreichen biografischen Brüchen gezeichnet, auch von Drogenabstürzen am Rande des Todes. Sie würden ausreichen, um beispielsweise, wäre das Talent vorhanden, große Erinnerungsbücher hervorbringen zu können. Ein Proust („Die verlorene Zeit“) oder ein van der Heijden („Die zahnlose Zeit“) hätten da an Erfahrungen nichts gegenzusetzen. Zumindest machen Seidls vier Gewährsleute nicht den Eindruck, als würden sie sich weigern, „ihre Vergangenheit im Gedächtnis abzulegen“, und „nur noch Gegenwärtiges auf Gegenwärtiges häufen“.

Wenn er da schwarz malt, dann merkt man Seidl an, dass er stark von der großen Popzeit der Achtzigerjahre beeinflusst worden ist, von einer Zeit, in der der Spaß am allergrößten war und niemals aufhören wollte; und dass er zu viele Generationsbücher der letzten Zeit vor seinem geistigen Auge gehabt hat, Bücher wie „Generation Golf“, in denen sich Erinnerungen tatsächlich nur aus popkulturellen Oberflächen speisen.

Kein Wunder, dass Seidl sein Buch im Titel an Aldous Huxleys düstere „Schöne neue Welt“ anlehnt und dann schon mal leicht resigniert vor sich hin träumt. Könnte es nicht sein, fragt er, dass wir alle, die wir zwischen 30 und 60 sind, uns in einem Gegenwartsknast befinden: für immer 35, aber ohne Erinnerung „auf unserem Gang durch die immerwährende Jugend“, zeitlos schön und jung, aber nicht in der Lage, selbst eine Spur in der Zeit zu hinterlassen?

Fragen bleiben Fragen

Es schwant einem, dass „Schöne junge Welt“ an der Ladenkasse scheitern wird, was es zu guter Letzt so richtig sympathisch werden lässt. Denn bei aller Leichtigkeit, mit der es geschrieben ist, bei aller Eleganz, mit der hier aus einem komplex-schwierigen Jahr wie 2000 kurzerhand ein „heiteres Jahr“ wird, „ein Jahr voller Zukunftsfreude und Energie“, stellt das Buch seine Gebrochenheit hübsch aus und verzichtet auf jede Form von simpler Handreichung und Gebrauchsanweisung; und es schlägt auch keinen Alarm oder kokettiert mit dem erfolgversprechenden Duktus des Visionären und Mahnenden. Fragen bleiben Fragen, Antworten gibt es so gut wie keine: „Aber daß beide Entwicklungen [die der Vergreisung und die der gleichzeitigen Verjüngung] nebeneinander laufen, müssen wir wohl zur Kenntnis nehmen. Und zwar freudig; was bleibt uns schon anderes übrig?“, fragt Seidl, resümiert aber, dass es mit dem Immer-35-Sein „zum Glück nicht so ist und hoffentlich auch nie so kommen wird“, weshalb man schon mal anfangen könne, „sich mit den Zeichen des Alters zu versöhnen“.

Man kann eben Kassandra spielen, muss aber wissen, dass auch das nur ein Spiel ist. Und dass es Seidl mit der Versöhnung nicht so eilig hat, bewies er erst neulich. Nach getaner Zeitungsproduktion stürmte er da geradezu in ein von jungen und manchmal schönen Menschen bevölkertes Szene-Café, um sich Eintrittskarten für die Eröffnung eines Ablegers des Cafés abzuholen, einen Club, der in dieser Nacht der Ort war, an dem man in Berlin unbedingt sein musste. Und da wollte auch der 46-jährige Claudius Seidl keineswegs fehlen.