: So wird sie Detektivin
RAUE ENGLISCHE PROVINZ Catherine O’Flynns Debütroman „Was mit Kate geschah“
„Sie wusste zu viel, um an Zufälle zu glauben“, heißt es zu Beginn des Romans geheimnisvoll über die Hauptfigur. Noch wissen wir nur, dass sie weiblich ist. Wir erleben aus ihrer Perspektive eine Busfahrt, in deren Verlauf sie die anderen Fahrgäste beobachtet. Erst allmählich wird aus Kleinigkeiten deutlich, dass die Person, durch deren Augen wir die Welt sehen, ein kleines Mädchen ist. Die zehnjährige Kate hat zusammen mit ihrem Stoffaffen Mickey eine Detektivagentur gegründet. Das ist mehr als ein Spiel, sondern eine Strategie, im rauen sozialen Klima der englischen Provinz zu überleben. Denn emotionalen Rückhalt findet Kate, die von ihrer Großmutter aufgezogen wird, da die Mutter abgehauen und der Vater tot ist, nur bei Mickey und ihrem Freund Adrian von nebenan, der schon 22 ist. Irgendwann freundet sie sich auch mit dem anderen sonderbaren Mädchen aus ihrer Klasse an, aber die hat es zu Hause noch schwerer.
Es ist Catherine O’Flynns Debütroman anzumerken, dass die Autorin das Milieu kennt, über das sie schreibt. Wie das Leben seiner Helden kommt der Roman mit einigen wenigen Schauplätzen aus. Zentraler Handlungsort ist ein großes Einkaufszentrum. Im Jahr 1984, dem Jahr, in dem Kate ihre heimlichen Observierungen vornimmt, gerade neu errichtet, wird die „Green Oaks“ genannte Mall zum Symbol einer radikalen Wandlung des öffentlichen Lebens. Statt zu Fuß zum Einkaufen in die High Street zu gehen, fährt man nun mit Auto oder Bus nach Green Oaks. Die Detektivspielerei des Mädchens, das sich, geschult durch ihr Lieblingsbuch „Wie werde ich Detektiv?“, heimlich an die Fersen eines Verdächtigen heftet, ist angesichts des Netzes von Sicherheitsleuten und Videokameras anachronistisch.
O’Flynn vermag es, die so offensichtliche Diskrepanz zwischen der kindlichen Abenteuersicht und der kalten Big-Brother-Welt der Konsumgesellschaft in unruhige Schwingungen zu versetzen. Im ersten Teil des Buches verlässt sie nie die Perspektive des Mädchens. Der zweite und deutlich längere Teil spielt im Jahr 2003. 19 Jahre zuvor ist die zehnjährige Kate auf nie geklärte Weise verschwunden. Hauptfiguren sind nun Adrians Schwester Lisa, Managerin eines Plattenladens, und ein Wachmann des Zentrums. Eines Tages findet Lisa einen Stoffaffen hinter einem Heizungsrohr. Wenig später bemerkt Kurt, der Wachmann, ein kleines Mädchen durch eine der Kameras. Doch außer ihm scheint niemand das Kind sehen zu können.
Mitunter gerät O’Flynn der kulturpessimistische Pinselstrich reichlich dick. Doch trotz der finsteren Grundierung ist dieser Roman alles andere als ein bitteres Sozialdrama, sondern vielmehr die wundersame Wiedergeburt des Sozialdramas im Geiste einer sehr vitalen Kombination aus Kriminal-, Gespenster- und Erlösungsgeschichte. In seiner Tendenz zur Überbetonung des handlungsauslösenden Elends folgt er einem literarischen Muster, das immerhin schon dem Märchen von Hänsel und Gretel zugrunde lag. Hätten dort nicht die bitterarmen Eltern ihre Kinder schnöde ausgesetzt, wären jene nie in die Lage gekommen, die böse Hexe besiegen zu müssen. Sie hätten aber auch nie entdeckt, dass sie das können. Ähnlich kommt auch die so spannende wie traurige Geschichte von Kate und den anderen verlassenen Kindern zu einem versöhnlichen, ja geradezu märchenhaften Ende. Ein Trost, trotz allem. KATHARINA GRANZIN
■ Catherine O’Flynn: „Was mit Kate geschah“. Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann. Atrium Verlag, Zürich 2009. 270 Seiten, 19,90 €