piwik no script img

Archiv-Artikel

„In Hamburg guckt man weg“

Todesfall Jessica: Sozialbehörde gibt Schulbehörde die Schuld, die bekämpft in Krisensitzungen Symptome statt Ursachen. Sozialarbeiter klagen, sie könnten kaum noch helfen, weil der Senat die Sozialen Dienste personell ausgedünnt hat

Von Kaija Kutter und Sven-Michael Veit

Kaum ist die Chefin wieder da, gibt es in der Schulbehörde Krisensitzungen. Nur widerstrebend ist Senatorin Alexandra Dinges-Dierig (parteilos) gestern Nachmittag aus ihrem Skiurlaub in den Alpen zurückgekehrt, um sich mit dem Fall der verhungerten Jessica aus Jenfeld zu beschäftigen. Bürgermeister Ole von Beust (CDU) hatte sie aufgefordert, bis Dienstag „minutiös“ aufzuklären, warum die Siebenjährige unbemerkt nie zur Schule angemeldet worden ist.

In der Schulbehörde herrscht nach taz-Informationen seit Mittwoch arges Chaos, nachdem die Senatskanzlei des Bürgermeisters Aufklärung eingefordert hat. Zuvor hatte sie behauptet, mit „dem tragischen Fall“ gar nichts zu tun zu haben. Die Sozial- und Jugendbehörde der Zweiten Bürgermeisterin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) jedoch reichte mit sicherem politischem Instinkt umgehend den schwarzen Peter herüber.

Sie hätte den Tod von Jessica verhindern können, wenn sie nur informiert worden wäre, behauptet die Jugendamtsleitung in einem Brief an die Schulbehörde. Angesichts der mangelhaften Kommunikation zwischen Schul- und Jugendämtern ist das zwar taktisch klug, dennoch ein durchaus zweifelhafter Freispruch in eigener Sache.

Mehrere Mitarbeiter der Sozialen Dienste (ASD), die ungenannt bleiben möchten, beklagen gegenüber der taz die Zustände in verarmten Hochhaussiedlungen wie Osdorfer Born, Neuwiedenthal oder auch Jenfeld an. „Der Fall Jessica ist kein Einzelfall. Es ist in bestimmten Gegenden normal, dass Familien einen leeren Kühlschrank haben“, sagt eine Sozialarbeiterin.

Viele Eltern dort seien nicht in der Verfassung, ihre Kinder zu versorgen. Hinzu kämen die Folgen von Hartz IV. War es früher möglich, dass die Familien mitten im Monat einen Vorschuss fürs Essen vom Sozialamt bekamen, so sei dies für Empfänger von Arbeitslosengeld II nicht mehr vorgesehen. Vernachlässigte Kinder, so eine Jugendamtsmitarbeiterin, gebe es „in Massen“. Bekannt würde dies leider nur durch traurige Zufälle.

Deshalb hätte jedem Sozialarbeiter eine folgenschwere Fehleinschätzung wie im Fall Jessica unterlaufen können. Die ASD-Mitarbeiter betreuten oft 100 und mehr Kinder und stünden häufig vor der Entscheidung, ob konkrete Hilfe erforderlich und der Einsatz vor Ort unter dem allgemeinen Spardruck zu begründen ist. So hätte es auch sein können, dass auf die Meldung von Jessicas Fernbleiben von der Schule hin lediglich ein Beratungsgespräch angeboten worden wäre: „Dass da ein Kind verhungert, ahnt ja kein Mensch.“

Schuld an den Zuständen seien die Kürzungen im Sozialbereich. So wurden die Sozialen Dienste personell ausgedünnt und Stellen mit Wiederbesetzungsperren belegt. In den Kitas und Grundschulen erschwerten größere Gruppen und Klassen die Arbeit der Pädagogen mit den vernachlässigten Kindern. Auch die neue Gebühr von 13 Euro für das Essen in der Kita habe eine „fatale Wirkung“.

„Es geht hier nicht um ein Versagen einzelner Behörden“, sagen die Sozialarbeiter. Deshalb sei es sinnlos, wenn Dinges-Dierig nun „symbolisch“ anordne, dass jedes Fernhalten eines Kindes von der Schule ans Jugendamt „durchgereicht“ werden muss. „Keine noch so starke Kontrolle kann schreckliche Einzelfälle wie diesen verhindern.“ Würde der Senat zur Kenntnis nehmen, was in den sozial benachteiligten Quartieren los ist, würde er bemerken, „dass kein kleiner Kreis von Armut und Vernachlässigung betroffen ist“, sagt ein Sozialarbeiter: „Aber in Hamburg guckt man weg.“

Die Polizei zieht inzwischen ein psychiatrisches Gutachten über Jessicas Eltern in Betracht, die seit Dienstag in Untersuchungshaft sitzen. Sie hatten das Mädchen in einem abgedunkelten und ungeheizten Zimmer ihrer Hochhauswohnung verhungern lassen. Sie hätten „ein Wahrnehmungsproblem“, vermutet ein Polizeisprecher nach ersten Vernehmungen: „Sie sind sich fast keiner Schuld bewusst.“