: Fette Jahre, zahnlose Zeit
Filmische Großdeutung der Erneuerung Italiens von der Nachkriegszeit bis heute: Marco Tullio Giordanas Sechsstunden-Epos „Die besten Jahre“
Ganz am Anfang von „Die besten Jahre“ gibt es eine Szene, in der ein Fernseher aus der elterlichen Wohnung geschafft wird. Zunächst bittet der Vater seinen Sohn Matteo (Alessio Boni), ihm dabei zu helfen. Als dieser nicht will, weil er für seine in zwei Tagen stattfindende Literaturprüfung lernt (die er, wie man später erfährt, boykottieren wird), übernimmt fröhlich sein Bruder Nicola (Luigi Lo Cascio), über eine Pause dankbar, die Aufgabe – obwohl auch er für sein anstehendes Medizinexamen büffelt. Diese eher unspektakulären Reaktionen komprimieren jedoch Gegensätze zwischen den Brüdern auf zwei Grundprinzipien, die den Film strukturieren: die ungeklärte Verweigerung des einen, optimistische Bejahung des anderen. Das Wegschaffen des Fernsehers aus dem Familienbereich nimmt auch den Abschied der Brüder vorweg.
Das schillernde Familienporträt „Die besten Jahre“ von Marco Tullio Giordana – benannt nach dem ersten Gedichtband „La meglio gioventù“ von Pier Paolo Pasolini – wurde ursprünglich als Fernsehvierteiler für das staatliche Fernsehen RAI konzipiert. Ende Dezember 2003 als nationales Fernsehereignis gesendet, kommt der Film nun, nach einem internationalen Preissiegeszug (unter anderem bester Film der Reihe „Un certain regard“ in Cannes 2003) als Zweiteiler mit insgesamt sechs Stunden in die deutschen Kinos.
Das Epos, das auf das deutsche Langzeitgroßprojekt „Heimat“ von Edgar Reitz anspielt, zielt zunächst auch auf einen nationaler Wiedererkennungseffekt italienischer Geschichte, denn es hangelt sich an historischen Daten entlang: von der Hochwasserkatastrophe in Florenz von 1966, den Studentenrevolten, der Antipsychiatriebewegung und den Roten Brigaden bis hin zum Mafiamord an dem Richter Giovanni Falcone. Ein solches Projekt könnte peinlich werden, zumal Giordana, dem mit „100 Schritte“ ein beachtlicher Antimafia-Politfilm gelang, und die Drehbuchautoren Sandro Petraglia und Stefano Rulli („Allein gegen die Mafia“) eine erzählerische Großdeutung der Erneuerung Italiens in der Nachkriegszeit im Sinn haben. Der Film hat jedoch etwas Entscheidendes, das ihn letztlich über jeden Makel erhaben sein lässt: Er verlässt nie den subjektiven Blickwinkel seiner Figuren.
Und er beginnt zunächst mit einem persönlichen Scheitern. Die Brüder Nicola und Matteo Carati, die alles teilen, befreien eine Psychiatrieinsassin, um sie vor weiteren Elektroschocks bewahren. Ihre Flucht und die Irrfahrt durch Norditalien endet jedoch in einem Fiasko, weshalb sich die Wege der Brüder trennen: Nicola macht eine Reise nach Norwegen, rebelliert als Student gegen die Gesellschaft, um schließlich doch Reformpsychiater zu werden. Luigi Lo Cascio, momentan der Shootingstar Italiens, spielt diesen Nicola mal mit quirliger Aufgedrehtheit, mal mit sanfter Zurückgenommenheit. Anders sein Bruder, dem der „unglückliche“ Part zufällt: Als hätte er Angst vor einer möglichen Entscheidungsfreiheit, meldet sich der hochbegabte, sperrige Matteo freiwillig zum Militär, um später Polizist zu werden und sich ganz aus der Familie zurückzuziehen. Es seien die „Regeln“, erklärt er einmal, die ihn faszinieren. Seine Figur ist das große Geheimnis des ganzen Films, weil ihre Widersprüche nicht aufgehoben und nie erklärt werden.
Vor allem aber ist „Die besten Jahre“ ein sinnlicher und intensiver Film: Wie er die Blicke zwischen den Schauspielern organisiert, sich Zeit für ihre Gesichter nimmt. Immer wieder beobachtet die Kamera sie in Zweierkonstellationen. Kameramann Roberto Forza nimmt dabei gern die beiden Personen frontal auf, so dass ihr Gespräch nicht im Schuss–Gegenschuss aufgelöst wird, was konzentriert und theatralisch zugleich wirkt. Leuchtende Panoramabilder der verschiedenen Städte und Landschaften teilen chronologisch die Zeiträume und verweisen auch auf Projektionen, denen Italien so gern unterliegt. Die Farbintensität, die blau und rot ausgeleuchteten Räume, besonders in der Geschichte um Nicola, unterstreichen das Melodramatische, bleiben aber immer funktional an die Erzählung gebunden.
Nur in den Neunzigerjahren tappt die Geschichte in die Harmoniefalle: Es dominiert ein unkonzentrierter Optimismus, der was von einer Soap-Opera hat, wenn unbekannte Kinder und Totgeglaubte auftauchen, die Geliebte des einen Bruders zur Geliebten des anderen wird. Und die nächste Generation, so lässt Giordana den Großentwurf ausklingen, heiratet nicht nur schneller als ihre Eltern und hat einen viel selbstverständlicheren Umgang mit der Tradition ihres Heimatlandes, ihr gelingt es außerdem, das Nordkap zu erreichen, wohin die Elterngeneration zwar wollte, aber nie ankam – ganz problemlos mit dem Posthubschrauber.
CHRISTIANE BREITHAUPT
„Die besten Jahre“. Regie: Marco Tullio Giordana. Mit Luigi Lo Cascio, Alessio Boni u. a. Italien 2003, 366 Min.