Wie ich Michael Hutchence wurde

Die Band INXS plant ein Comeback. Leiderist ihr Sänger tot. Das ist meine Chance!

AUS SEATTLE PAUL STINSON

Ich kam als Erster am Club an. Mit meinen INXS-Rockstar-Unterlagen, die ich von der INXS-Website heruntergeladen hatte, und mit der Begründung, warum gerade ich als neuer Sänger von INXS bei ihrer nächsten Tour im Wembley-Stadion dabei sein sollte. Nun war ich nur mehr einen kleinen Schritt von meinem neuen Leben als Rockstar entfernt! Ich fühlte mich bereit. Etwas später trudelten andere Songwriter zum großen Sänger-Casting im Club ein. Aber sie schlugen sich erst mal mit den Unterlagen herum und waren hauptsächlich damit beschäftigt, die rechtlichen Verzichtserklärungen im Künstlervertrag zu lesen.

Den letzten Monat hatte ich damit verbracht, drei von meinen eigenen Songs auf Bühnen kleinerer Clubs vorzutragen, um mich an jede denkbare Form von Ablenkung zu gewöhnen. Ich hätte die Songs im Schlaf spielen können, oder zumindest doch um acht Uhr morgens, da nämlich öffnete der Club für das Casting. Als mein Wecker klingelte, stellte ich fest, dass ich weit davon entfernt war, als Erster in einer Schlange zu stehen: Ich lag immer noch im Bett. Ich hatte nur geträumt. Die Vorstellung, einen Raum mit unfreundlichen und unerbittlichen Jurymitgliedern zu betreten, hatte mich bis sechs Uhr morgens wach gehalten. Würde Joy Division nach einem Sänger suchen, ich wäre längst beim Casting gewesen. Ich meine, ich besitze noch nicht mal ein INXS-Album!

Draußen, vor dem El Corazon Club, in dem das Casting stattfindet, schlief niemand. „Um sechs Uhr morgens gab es bereits eine Schlange von 50 Leuten mit Gitarren. Manche kamen sogar schon um eins, während drinnen noch eine ganz andere Show lief“, erzählt Josh „Whitey“ Myrick später. Der 26-Jährige arbeitet als Rausschmeißer im El Corazon. „Einer kam sogar aus Toronto nach Seattle, um zum zweiten Mal am Casting teilzunehmen.“ Jemand war also 4.139 Kilometer gefahren, um ein Star zu werden!

Samstagmorgen, 11 Uhr 45. Ich komme endlich am Club an. Draußen gibt es keine Schlange. Auch keinen riesigen Übertragungswagen des lokalen Fernsehsenders, wie auf der INXS-Website über das Casting in Toronto berichtet wird. Nur ein großer Mann in einem blauen Mantel, der mich fragt, ob ich meine Unterlagen dabei hätte. Er begleitet mich nach innen, zu einem kleinen Tisch, ausgestattet mit einem Apple Computer und zwei Mädchen Anfang 20. „Hi, bist du ein Singer-Songwriter?“, fragt die eine. Ein Ramones-T-Shirt schaut unter ihrer schwarzen Jacke hervor. Sie ist im Musikgeschäft, aber möchte jeden wissen lassen, dass sie trotzdem nie aufgehört hat „punk-rock“ zu sein. Ich nicke und stelle mich vor. „Hier ist dein Umschlag. Steck deine Unterlagen rein. Du hast die Startnummer 64. Dann halte bitte den Umschlag vor dein Gesicht und schau in die Kamera.“

Können Sie komponieren? Manchmal

Identifiziert, fotografiert, registriert. Ich fühlte mich wie ein Rentier. Nur auf Seuchen wurde ich nicht getestet. Noch nicht. Eine andere Mitarbeiterin hält ihre Kamera in die Höhe. „Halte den Umschlag neben dein Gesicht“. Ich halte ein Magazin mit Michael-Jackson-Cover vor mein Gesicht. Mäßig belustigt schiebt sie meinen Umschlag über das Magazin. „Lächeln!“, sagt sie. Okay, jetzt fühle ich mich wie ein erkennungsdienstlich erfasstes Rentier. Ich fange an, meine Gitarre zu stimmen. Und gehe in Gedanken noch mal die Fragen aus den Unterlagen durch – ein Set aus Ja- und Nein-Fragen. „Können Sie texten?“ Ja. „Können Sie Musik komponieren?“ Manchmal. „Sind Sie lebensmüde?“ Okay, diese Frage war nicht auf dem Bogen, aber sie scheint die einzig richtige, um diesem Casting gerecht zu werden. „Wer ist Ihr Lieblings-Rockstar? Welchen Rockstar bewundern Sie am meisten? Welchem Star sind Sie Ihrer Meinung nach am ähnlichsten?“ Bob Mould, Mark Eitzel, Robyn Hitchcock – das waren meine Antworten. Jemand, der in einem Independent-Plattenladen arbeitet, kann mit diesen Namen etwas anfangen, leider aber kein Talentscout.

Aus dem Bühnenbereich tönt eine Frauenstimme. Sie singt den bekannten Refrain von Guns ’n’ Roses’ „Sweet Child of Mine“. Ein Klassiker in der Seattle-Karaoke-Szene, das Ticket für den Rock-’n’-Roll-Star – zumindest setzte diese Frau darauf. In manchen Passagen klang es, als missbrauchte jemand eine Katze, und bevor sie den Refrain beenden konnte, setzte schon Applaus ein – das Zeichen der Jury, dass ihr Auftritt zu Ende ist.

Meine Larivee Akustik-Gitarre ist bereit für die Schlacht. Mittlerweile sind auch die Startnummern 65–68 angekommen und haben sich registrieren lassen. Eine Frau um die 40, die extra aus Las Vegas eingeflogen war, beendet ihren Auftritt und geht zurück an die Bar. „Du warst wirklich gut, du hast Talent“, sagt sie zu einem anderen Bewerber, während sie ihre hochhackigen schwarzen Rock-’n’-Roll-Stiefel gegen ein Paar weiße Tennisschuhe eintauscht. Der schlaksige Mann mit Vogelnest auf dem Kopf sieht aus, als würde er an einem Casting für The Strokes teilnehmen. Die letzten fünf Minuten hatte er damit verbracht, mit dem Mädchen zu plauschen, das mein Foto aufgenommen hatte. Als er den Club verlässt, brüllt er „See you in Los Angeles – vielleicht“, fügt er an. Hoffnungsvoll.

„Nummer 64“, brüllt eine kleine Frau mit dicker schwarzer Bibliothekarinnenbrille. Ich werde an Flipper-Geräten vorbeigeführt, durch eine riesige schwarze Schiebetür hindurch, die die Bühne von der Kneipe abtrennt. This is it! Ich bin bereit. Auch für fiese Jurymitglieder mit schwerem ausländischem Akzent. „Warte hier, sie rufen dich hinein“, sagt die Bibliothekarin. Whitey, den ich seit Jahren von Seattle Shows kenne, betritt den Club, drei Pizzen auf dem Arm. Läuft an mir vorbei, direkt in den Aufführungsraum. Ich konnte riechen, was als nächstes auf der Tagesordnung stand: „Mittagspause. Ich werde dich rufen, wenn wir fertig sind“, sagt die Bibliothekarin. Meine fünf Minuten als Michael Hutchence –verzögert durch Pizza. Plötzlich fühlte ich mich, als wäre ich in Deutschland, in einer Postfiliale, zwischen 12 und 13 Uhr Mittags. Mit einem Freund und der Fotografin Kristina gehen ich nach draußen, ein bisschen Seattle-Sonne tanken. Whitey gesellt sich zu uns, zündet sich eine Zigarette an. Offensichtlich ist er genauso gelangweilt, wie wir es sind. „Sie suchen nicht wirklich jemanden, der singen oder Gitarre spielen kann“, erklärt er mir, hilfsbereit. „Sie wollen jemanden mit der gewissen Aura.“ Mein Rekord bisher war, vor 100 Leuten zu spielen, für gewöhnlich bin ich glücklich, wenn ich vor 20 Leuten spielen kann. Dass ich es innerhalb der nächsten 45 Minuten draufhaben würde, aufzutreten, als spielte ich vor einem Stadionpublikum, erscheint mir ziemlich unwahrscheinlich. Mein größtes Ziel ist es nur, meinen Song zu spielen, ohne dass eine Saite meiner Gitarre reißt oder ich falsch spiele.

Direkt im Rock-’n’-Roll-Fegefeuer

Vor dem Club kommt ein Paar mit Kinderwagen an. Wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt, hier ist ja nicht McDonald’s. Der Vater küsst die Frau auf die Wange und verschwindet im Club. Er hat seine Papiere ausgefüllt, die Hoffnungen sind groß. Es fühlt sich an wie eine Stunde, tatsächlich ist es nur eine halbe, seit die Pizza geliefert wurde. Auf den Flipper-Geräten hängen große „Nicht Spielen!“ Schilder. Mir bleibt also keine Möglichkeit, irgendwie die Zeit totzuschlagen.

Es ist mir auch noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass ich eventuell am Sonntag einen Anruf bekommen könnte, dass ich montags wiederkommen solle … Ich befinde mich in einem seltsamen Zustand, irgendwas zwischen gelangweilt und nervös. Nummer 63 hat den Club vor einer Stunde verlassen, und es gab bis jetzt nichts zu tun, außer Nummer 65 dabei zuzusehen, wie er mit einer Mitarbeiterin flirtet, und Nummer 68 dabei, wie er Gitarre spielt, während er sich mit seiner Freundin unterhält. Ich fühle mich, als wäre ich direkt im Rock-’n’-Roll-Fegefeuer gelandet oder zumindest doch vor ein Erschießungskommando gestellt worden. „Uns sind die Kugeln ausgegangen. Wir müssen kurz ins Einkaufszentrum, sind gleich zurück.“ Die Bibliothekarin kommt von der Toilette zurück und wirft einen Blick auf den nächsten Schwung von Bewerbern.

„Okay, wir machen jetzt weiter.“ This is it! Meine große Rock-’n’-Roll-Erfahrung. Ich werde meinen Enkeln davon erzählen können. Ich bin bereit! Der Raum ist fast leer. Keine grellen Scheinwerfer, keine Star-Mitglieder in der Jury, nur zwei Typen, die an einem Tisch sitzen und ihre Pizza aufessen. Hinter dem Tisch steht eine Kamera. Meine Lieblingsbibliothekarin setzt sich mit uns, bittet uns, unsere Handys auszuschalten und stellt uns Sam vor, den Verantwortlichen, eingeflogen aus Los Angeles, um Guns-’n’-Roses-, INXS- und Pearl-Jam-Songs anzuhören.

Sam scheint eigentlich ganz nett zu sein. Er sieht aus wie ein sizilianischer Freund von mir, um die 40, dickes schwarzes Haar, muskulös gebaut. „Danke, dass ihr alle gekommen seid. Wir suchen jemanden, der Spaß haben möchte, jemanden mit der gewissen Aura. Denkt dran, INXS spielten in Stadien vor 80.000 Fans! Wenn ihr herumrennen wollt, kein Problem, unsere Kameras folgen euch.“

Wie kann ich herumrennen mit einer Akustikgitarre in der Hand? Plötzlich wird mir klar: Ich bin der Einzige, der sich Sorgen macht über Gitarrensaiten. Sie suchen keinen Songwriter, sondern nach einem Johnny Halliday im Clownskostüm. Nummer 70, der zweifache Vater, sitzt neben mir und schaut nervös auf seine Lyrics.

Auf der Bühne hilft mir eine Mitarbeiterin dabei, meine Gitarre anzuschließen. „Viel Glück“, sagt sie. Zum zweiten Mal heute halte ich einen Umschlag neben mein Gesicht und schaue in die Kamera. Der Mann am Tisch meldet sich zu Wort: „Wenn wir zu applaudieren beginnen, nimm’s nicht persönlich. Das bedeutet, dass wir verstanden haben, was du machen willst, und dass dein Auftritt zu Ende ist. Okay, schau in die Kamera und nenne uns den Namen des Songs, den du spielen wirst.“

Ich beginne zu spielen, „My Favourite Ghost“, und immer wenn ich konnte, schaute ich in Richtung Kamera, also nur, wenn ich sicher war, dass die Rockstar-Show nicht auf Kosten des Songs ging. Denn das sind meine Prioritäten. Drei Minuten sind vergangen und das schlimmste ist vorbei. Ich bin 1 Gitarren-Solo, 16 Worte und 20 Sekunden davon entfernt, den Song zu beenden. Klatsch, klatsch, klatsch. „Danke. Der nächste!“ Meine fünf Minuten als Michael Hutchence – in Wirklichkeit waren es drei. „Guter Auftritt“, sagt die Mitarbeiterin und lächelt. Ich werde wohl nicht so schnell in Sydney spielen, aber ein Kompliment von einer Fremden – das reicht mir für ein neues Rockstar-Leben. Ich verlasse den Club mit meinem Song im Kopf und freue mich auf den Seattle-Grunge-Paten, auf die Mudhoney-Show, später am Abend.